Der Oberstleutnant konnte es nicht glauben: „Das widerspricht allen taktischen Grundregeln“, sagte Ulrich Wegener am 5. September 1972 gegen 16.35 Uhr konsterniert zu seinem Chef Hans-Dietrich Genscher. Der damalige Bundesinnenminister antwortete: „Davon wissen allerdings viele von der Polizei nichts.“
Anlass für den ungläubigen Wortwechsel war das Vorgehen der Münchner Polizei während des Geiseldramas im Olympischen Dorf. Acht palästinensische Terroristen hatten zwei israelische Olympia-Teilnehmer ermordet und neun weitere als Geiseln genommen, um mehr als 200 Gesinnungsgenossen freizupressen. Rund zwölf Stunden nach dem Beginn des Überfalls, eben gegen 16.35 Uhr, bereiteten sich nun Beamte der Münchner und der bayerischen Landespolizei auf einen Sturm der Wohnung vor, in denen die Täter ihre Gefangenen festhielten.
Allerdings vor den Kameraobjektiven der Weltmedien. Mehrere TV-Kanäle, darunter der US-Sender ABC, sendeten live und von Reportern vor Ort kommentiert, wie sich die Sturmtrupps vorarbeiteten, um geeignete Positionen für einen Sturmangriff zu erreichen. „Das widerspricht allen taktischen Grundregeln“ war da noch ein äußerst zurückhaltend formuliertes Urteil.
Das Münchner Drama ging auf die denkbar schlimmste Art zu Ende – alle Geiseln starben auf dem Flugfeld Fürstenfeldbruck, und die drei überlebenden Terroristen wurden einige Wochen später sogar gegen eine entführte Lufthansa-Maschine ausgetauscht. Vorher aber schon hatte Genscher Konsequenzen gezogen – und Ulrich Wegener spielte dabei die Hauptrolle.
Am 26. September 1972 nämlich gab der Bundesinnenminister (der Willy Brandt wegen des Desasters seinen Rücktritt angeboten, den der Kanzler aber abgelehnt hatte) die Gründung einer speziellen Antiterrortruppe bekannt. Sie bekam den technischen Namen Grenzschutzgruppe 9, eigentlich eine Verlegenheitslösung, denn bis dahin war der Bundesgrenzschutz, die einzige Polizeieinheit des Bundes, in sieben Grenzschutzgruppen zu Lande und die Grenzschutzgruppe See gegliedert.
Der Name jedoch war gleichgültig – als entscheidend erwies sich, was Wegener aus der neuen Einheit machte. Er war mit Genscher in Fürstenfeldbruck gewesen und hatte das Scheitern der Bemühungen der Münchner Polizei mit eigenen Augen verfolgt. Der damals 43-jährige Oberstleutnant diente zu dieser Zeit als BGS-Adjutant beim Minister.
Nun konzipierte er eine völlig neue Einheit. Mann für Mann wählte er persönlich ihre Mitglieder aus, setzte eine umfassende Ausbildung durch und erreichte exzellente Ausstattung mit praktisch unbegrenzten Mitteln. Ein gutes halbes Jahr später, im April 1973, meldete Wegener die Einsatzbereitschaft der ersten beiden Teileinheiten der GSG-9.
Es hätte keinen besseren Mann für diese Aufgabe geben können. Ulrich Wegener, geboren am 22. August 1929 im brandenburgischen Jüterbog, hatte als Jugendlicher im Frühjahr 1945 Glück gehabt: Er war nicht mehr wie viele Altersgenossen als jugendlicher Volkssturm-Soldat im Kampf gegen die weit überlegene Rote Armee verheizt worden. Dennoch prägte die Erfahrung entgrenzter Gewalt sein Denken – Wegener sagte einmal der WELT, der Einsatz dosierter Gewalt sei immer dann zulässig, wenn sich auf diese Weise Schlimmeres verhüten lasse.
Genau dieses Prinzip der genau dosierten, verhältnismäßig eingesetzten Gewalt in Ausnahmesituationen wurde zum Markenzeichen der GSG-9: Die weitaus meisten ihrer Einsätze verliefen und verlaufen bis heute ohne dass sie ihre Schusswaffen benutzen müssen.
Als junger Mann machte Wegener schlimme Erfahrungen mit der zweiten Diktatur auf deutschem Boden: Unmittelbar nach seinem Abitur 1950 nahm ihn die Stasi fest. Anderthalb Jahre saß er als politischer Häftling hinter Gittern – zuerst in Potsdam, dann in Brandenburg an der Havel. Sein „Verbrechen“: Wegener hatte Flugblätter verteilt, in denen die SED kritisiert wurde.
Nach der Entlassung flüchtete der nun 22-Jährige nach West-Berlin und bewarb sich bei der Polizei. Angenommen wurde er allerdings erst Monate später in Baden-Württemberg. Doch er wollte so rasch wie möglich in die Offizierslaufbahn wechseln. Das gelang ihm erst 1958, nun beim Bundesgrenzschutz. Mit 30 Jahren wurde er 1959 Leutnant im BGS, der damals noch militärische Dienstgrade nutzte.
Er machte eine stetige, aber zunächst unauffällige Karriere – die ihn 1970 ins Ministerbüro führte, offiziell als Verbindungsbeamter des BGS, in Wegeners eigenen Worten als Genschers Adjutant. Tatsächlich entsprach seine Tätigkeit beispielsweise am 5. September 1972 ziemlich exakt den klassischen Aufgaben eines Begleitoffiziers: Er setzte die Weisungen seines Chefs eigenverantwortlich um, versorgte ihn mit Informationen und beriet ihn.
Nach dem Desaster von Fürstenfeldbruck verlangte Wegener freie Hand, um ein ähnliches Versagen für die Zukunft zu verhindern. Schon bald meldeten sich jedoch Bedenkenträger aus den Ländern, denen die neue Rolle des Bundes in der inneren Sicherheit missfiel. Manche Politiker wollten nur eine Teilzeit-Einheit statt einer hoch spezialisierten, ständig trainierten Anti-Terror-Truppe. Außerdem missfiel manchen die enge Zusammenarbeit der GSG-9 mit Israel: Wegener hatte einen engen Austausch mit der Spezialeinheit Sajeret Matkal vereinbart, von der die GSG-9 viele Einsatztaktiken lernte.
Alle Unkenrufe hatten am 18. Oktober 1977 ein Ende: Eine Einheit der GSG-9 unter persönlicher Führung von Wegener befreite die entführte „Landshut“ auf dem Flughafen von Mogadischu. Seither genießt seine Truppe völlig zu Recht einen Sonderstatus – auch wenn Journalisten 1993 versuchten, den Anti-Terror-Experten eine „Hinrichtung“ anzudichten.
Ulrich Wegener blieb bis 1981 Chef seiner Truppe, ging acht Jahre später als Brigadegeneral des Bundesgrenzschutzes in den Ruhestand, wirkte weltweit als Experte für Antiterror-Maßnahmen und als gefragter Interviewgast zahlreicher Medien. Am 28. Dezember 2017 starb er im Alter von 88 Jahren.
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Dieser Artikel wurde erstmals im September 2021 veröffentlicht.