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  3. SA-Chef Viktor Lutze: Der Nazi, der den „Röhm-Putsch“ verriet

Geschichte Tagebuch des SA-Chefs

So rechtfertigte sich der Nazi, der den „Röhm-Putsch“ auslöste

Viktor Lutze war ein eher unauffälliger Funktionär der Braunhemden – bis zum Juni 1934. Da trug er wesentlich zu Hitlers Entscheidung bei, die SA-Führung zu ermorden. 80 Jahre nach Lutzes Tod bei einem Autounfall 1943 wird sein Tagebuch zugänglich.
Leitender Redakteur Geschichte
Lutze haelt Rede/Reichswettkaempfe SA 1938 Lutze, Viktor Stabschef der SA (1934-43) und Ober- praesident von Hannover (1933-41) 1890-1943. - Lutze haelt eine Ansprache, waehrend der Abschlussveranstaltung der SA-Reichs- wettkaempfe im Berliner Olympiastadion.- Foto, Sommer 1938. Lutze haelt Rede/Reichswettkaempfe SA 1938 Lutze, Viktor Stabschef der SA (1934-43) und Ober- praesident von Hannover (1933-41) 1890-1943. - Lutze haelt eine Ansprache, waehrend der Abschlussveranstaltung der SA-Reichs- wettkaempfe im Berliner Olympiastadion.- Foto, Sommer 1938.
SA-Chef Viktor Lutze (1890 bis 1943) hält im Berliner Olympiastadion 1938 eine Rede
Quelle: picture-alliance / akg-images

Manche Karriere verdankt sich nicht besonderen Fähigkeiten, bestimmtem Auftreten oder auch nur eindrucksvollem Äußeren - manche Laufbahn ist das Ergebnis gerade von Unauffälligkeit. Nach den rund hundert Morden im Zusammenhang mit dem vermeintlichen „Röhm-Putsch“ am 30. Juni und 1. Juli 1934 brauchte Adolf Hitler unbedingt einen neuen Stabschef für seine SA, die mehr als vier Millionen Braunhemden.

Also einen Nachfolger für Ernst Röhm, den Ex-Offizier mit Zügen eines Landsknechts, der mühelos Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte und dessen von Granatsplitternarben entstelltes Gesicht niemand vergessen konnte, der es einmal gesehen hatte. Die Idealbesetzung für diesen Posten war ein Mann, der sich in allen wesentlichen Fragen geradezu diametral von Röhm unterschied: Viktor Lutze.

Hitler with Viktor Lutze his head of Staff in 1935.
Lutze mit Hitler im Arbeitszimmer des "Führers" 1935. Das Porträt Friedrichs des Großen von Anton Graff hing 1945 in Hitlers Wohnzimmer im Berliner Führerbunker
Quelle: picture alliance/United Archives

Schon seit Jahrzehnten ist bekannt, dass der vormalige SA-Chef von Hannover handschriftliche Aufzeichnungen hinterlassen hat, die 1934 begannen und die er bis zu seinem Tod durch einen vom eigenen Sohn verschuldeten Autounfall am 1. Mai 1943 unregelmäßig fortführte. Denn 1957 hatte die „Frankfurter Rundschau“, damals die führende linksliberale Zeitung Deutschlands, einige Auszüge aus diesem Dokument in einer dreiteiligen Serie veröffentlicht, nämlich Lutzes Eindrücke über die „Nacht der langen Messer“, wie Hitler selbst in einer Rede die Mordaktion im Sommer 1934 genannt hatte.

Doch weil es Streitigkeiten über das rechtmäßige Eigentum an der in Leder gebundenen Kladde mit insgesamt 312 beschriebenen Seiten gab, stand das Dokument die folgenden mehr als sechs Jahrzehnte der historischen Forschung nicht zur Verfügung. In der April-Ausgabe 2023 der renommierten Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte des gleichnamigen Münchner Instituts legt der Zeithistoriker Daniel Siemens, Professor an der University of Newcastle und bekannt unter anderem für sein 2019 erschienenes Standardwerk „Sturmabteilung“ über „Die Geschichte der SA“ (Siedler-Verlag München. 592 S., 36 Euro) immerhin etwa 40 Prozent des Materials in einer kommentierten Edition vor.

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„Verzichtet wurde insbesondere auf den autobiografischen Rückblick auf Lutzes Werdegang bis 1933 sowie auf Eintragungen zu den Jahren 1935 bis 1938“, erläutert Siemens. Die Rückblende sei „überaus konventionell gehalten“, während die Aufzeichnungen nach dem „Röhm-Putsch“ zwar Interesse verdient hätten, etwa zur Krise Anfang 1938, die in der Regel mit den Namen Werner von Blomberg und Werner von Fritsch verbunden wird. Aber sie trügen zum inzwischen erreichten Stand der Forschung nur wenig Neues bei.

Daher entschied sich Siemens, den in einer wissenschaftlichen Zeitschrift natürlich stark beschränkten Umfang der Teil-Edition auf zwei andere Abschnitte zu beschränken: Einerseits auf die bisher nur durch die Serie in der „Rundschau“ ausschnittsweise bekannten Passagen zum 30. Juni 1934, natürlich die zeithistorisch wichtigsten Abschnitte, denn nie zuvor und nie danach war Lutze so dicht dran an wirklich wichtigen Ereignissen. Andererseits auf die Zeit vom „Anschluss“ Österreichs im März 1938 bis zum Tod des inzwischen (verglichen etwa mit SS-Chef Heinrich Himmler) weitgehend bedeutungslosen Stabschefs der SA.

Über den Tag hinaus

Der „Röhm-Putsch“ war der Auslöser für Lutze, seine Gedanken und Reflexionen niederzuschreiben. Dazu benutzte er eine Kladde mit blanken Seiten, die er in seinem privaten Arbeitszimmer verwahrte, seit 1936 in einem herrschaftlichen Neubau in Bevergern nördlich von Münster. Hierhin zog der SA-Chef sich zurück, wenn er nicht dienstlich in Berlin, München oder andernorts zu tun hatte – und hier fand er offensichtlich die Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen und sie aufzuschreiben.

„Die luxuriöse Aufmachung des Tagebuchs verdeutlicht, dass Lutze seiner Niederschrift Bedeutung über den Tag hinaus beimaß und dass er 1934 entschlossen war, sie über einen längeren Zeitraum hinweg fortzuführen“, schreibt Siemens: „Dennoch tat er sich mit der Formulierung seiner Gedanken erkennbar schwer. Lutze war kein geübter Schreiber wie Goebbels.“

Zentrales Motiv für den Beginn des Tagebuchs war offensichtlich das Gefühl, seine eigene Rolle beim „Röhm-Putsch“ zu rechtfertigen – vermutlich mehr sogar vor sich selbst als vor anderen. Darauf deutet schon der Titel: „Tagebuch von Viktor Lutze, beginnend mit dem unglückseligen 30. Juni 1934“, hieß es auf der ersten Seite.

Tagebuch von Viktor Lutze
Das Tagebuch von Viktor Lutze
Quelle: AdsD/Nachlass Viktor Lutze
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Interessanterweise kritisierte Lutze seinen Vorgänger scharf für dessen 1933/34 „sehr oft im Munde“ geführte Forderung nach einer „zweiten Revolution“, andererseits stellte er in kategorischem Tonfall fest: „Nie hat Röhm am 30. Juni 1934 einen Putsch gegen den Führer gewollt!“

Offensichtlich fühlte sich Lutze in einem Zwiespalt, hatte so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Denn er war es gewesen, der Hitler über wütende Tiraden des Cholerikers Röhm im Kreise von SA-Führern informiert, man kann auch sagen: ihn verraten hatte. Jedenfalls kam Lutze im Vorfeld der „Säuberung“ eine wesentliche Rolle zu. Sich selbst beruhigte er im Tagebuch mit Hitlers angeblich oder tatsächlich am 22. Juni 1934, also acht Tage vor dem blutigen Höhepunkt des vermeintlichen „Putsches“, gegebener Zusage, nur an „nur an eine Absetzung Röhms“ zu denken.

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Wie bei jeder neu zugänglichen Quelle (deren Echtheit übrigens außer Frage steht, die Überlieferung der Kladde ist seit Frühjahr 1945 nachgewiesen, wenn auch verwickelt) muss sich nun die detaillierte Auswertung anschließen; als Herausgeber hat Siemens seine Aufgabe erst einmal hervorragend erfüllt. Zu Recht betont er, dass „Lutzes Schilderung der Ereignisse zwischen dem 27. Juni und Mitte Juli 1934 eine der wichtigsten Quellen“ für den vermeintlichen „Röhm-Putsch“ ist. Allerdings müsse man seine „retrospektive, sehr subjektive Rekonstruktion der Ereignisse im Licht der bereits thematisierten Rechtfertigungsstrategie“ Lutzes lesen.

Australian war correspondent Chester Wilmot (1911 - 1954) at work in early 1944, during a mock battle to rehearse the reporting of the D-Day landings for BBC radio. Wilmot also reported for the Australian Broadcasting Corporation. Original publication: Picture Post - 1717 - How The BBC Covers The Invasion - pub. 17th June 1944. (Photo by Leonard McCombe/Picture Post/Hulton Archive/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Der australische Militärhistoriker und Kriegsreporter "Chester“ Wilmot (1911 bis 1954) beobachtet eine Übungslandung in Südengland im Frühjahr 1944
Quelle: Getty Images

Seit 1970 verwahrt das Archiv der sozialen Demokratie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn das Original. Es wurde ihr von einem französischen Politiker übergeben, der es wiederum von dem australischen Kriegsreporter William „Chester“ Wilmot erhalten hatte. 1944/45 bemühte sich Wilmot, der schon vor dem Zweiten Weltkrieg als Militärhistoriker gearbeitet hatte, um die Sicherung zahlreicher Quellen über die jüngsten Ereignisse.

Dazu gehörten Papiere, die nach der Kapitulation des Kessels von Falaise in die Hände der Alliierten fielen, aber ebenso die Handakten von Albert Speer und die Aufzeichnungen über die Besprechungen von Hitler mit Dönitz. Und eben die Kladde von Lutze. Wie genau sie in die Hände des Australiers gelangt, konnte bisher nicht geklärt werden.

„Vor allem Herr Siemens hat das dicke Brett gebohrt, das Lutze-Tagebuch besser zugänglich zu machen“, sagt Anja Kruke, die Leiterin des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, zu WELT: „Ihm gebühren Dank und Blumen für seine Hartnäckigkeit. Ich bin froh, dass es jetzt so weit ist.“ Weitere Forschungen werden gewiss folgen.

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