„Nicht alternativlos“ heißt ein Aufsatz, den die Historiker Wolfram Pyta und Rainer Orth in der kommenden Ausgabe der „Historischen Zeitschrift“ veröffentlichen. Sie zeigen darin, dass die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler keineswegs die einzige Option war, die Reichspräsident Hindenburg Ende Januar 1933 hatte. Denn das „Querfront“-Konzept des letzten Kanzlers der Weimarer Republik, General von Schleicher, war deutlich weiter als bisher bekannt. Wie hätte es weitergehen können, wenn sich Hindenburg anders entschieden hätte?
Naturgemäß kann man nicht sicher sein, was mit dem ehemaligen Reichsorganisationsleiter und damit zweiten Mann der NSDAP, Gregor Strasser, als Vizekanzler an der Seite eines weiter amtierenden Kanzlers Kurt von Schleicher anders geworden wäre als unter dem Reichskanzler Hitler. Aber es gibt, wendet man die Regeln des Berliner Kulturhistorikers Alexander Demandt zum sinnvollen Nachdenken über alternative Geschichte an, doch naheliegende Annahmen. Wahrscheinlich sind drei konkrete Auswirkungen:
Erstens wäre die NSDAP ohne den Bonus der Macht wohl im Frühjahr 1933 zerbrochen. Denn die braune Bewegung hatte sich im Superwahljahr 1932 zum disparaten Sammelbecken gleichermaßen überzeugter Nationalsozialisten wie Protestwähler entwickelt; nur so erreichte sie überhaupt die ungeheure Zahl von fast 14 Millionen Wählern bei den Reichstagswahlen am 31. Juli. Danach aber hatte der Parteichef das Angebot des Reichspräsidenten auf Mitwirkung an einer neuen Regierung zurückgewiesen und auf der Reichskanzlerschaft für sich und den vollen Machtbefugnissen eines Präsidialkabinetts (statt einer parlamentarisch gestützten Regierung) bestanden.
Das enttäuschte viele Protestwähler – bei der Reichstagswahl am 6. November 1932 verlor die NSDAP die Zustimmung von zwei Millionen Wählern. Als Hitler auch ein weiteres Angebot des Reichspräsidenten zurückwies, hatte das bei den politisch ansonsten unwichtigen Thüringer Kommunalwahlen massive Verluste zur Folge.
Daraufhin hatte Hitler am 8. Dezember 1932 bei einem Funktionärstreffen in Berlin gedroht, er werde Selbstmord begehen, falls die NSDAP zerbräche. Hätte er das umgesetzt, wäre seine stark auf ihn als „Führer“ fixierte Bewegung bald bedeutungslos geworden. Aber selbst wenn Hitler nicht Suizid begangen hätte, sondern in radikale Opposition zu einer Regierung Schleicher-Strasser gegangen wäre, standen die Aussichten für ihn schlecht, denn der Mythos des unumstrittenen „Führers“ wäre definitiv beschädigt gewesen.
Zumal die NSDAP Ende 1932 faktisch insolvent war. Die dauernden Wahlkämpfe und das ausgesprochen luxuriöse, weitgehend von der Partei finanzierte Leben des „Führers“ (mit dem enorm teuren Hauptquartier in München, dem „Braunen Haus“, dem großen Stab bezahlter Begleiter und dem Logieren stets im teuersten Hotel am Platze) hatten die ohnehin nie großen finanziellen Reserven weitestgehend aufgegriffen. Eine staatliche Parteienfinanzierung gab es in der Weimarer Republik nicht; alle Mittel stammten von Mitgliedern und Anhänger, als Beiträge, Eintrittsgelder zu Veranstaltungen oder für Publikationen.
Zweitens wäre Deutschland sicher auch unter einem Gespann Schleicher-Strasser in der Regierung zur Diktatur geworden – Demokraten oder gar Anhänger des Parlamentarismus waren beide nicht. Vermutlich hätte sich die Weimarer Republik etwa so entwickelt wie das autoritäre Regime des früheren habsburgischen Admirals Miklos Horthy in Ungarn seit 1920, der sich selbst als „Reichsverweser“ betrachtete – eine Funktion, die wohl auch Hindenburgs Selbstverständnis entsprochen hätte.
Maximal hätte sich eine Entwicklung wie Italien unter dem Faschisten Benito Mussolini in den ersten zwei, drei Jahren seiner Herrschaft ab 1922 ergeben. Gewiss wäre die KPD unterdrückt worden, vielleicht auch die SPD. Judenfeindliche Maßnahmen hätte es vermutlich ebenfalls gegeben, denn auch ein Gro��teil der Strasser-Anhänger in der NSDAP waren Antisemiten. Allerdings nicht annähernd so massiv wie unter dem Kanzler Hitler.
Man kann annehmen, dass vergleichsweise „moderate“ Nationalsozialisten wie der NS-Wirtschaftsexperte Walther Funk, Reichstagspräsident Hermann Göring und andere sich bald auf Strassers Seite geschlagen hätten. Dagegen wäre Propagandachef Joseph Goebbels gewiss Hitler treu geblieben, vermutlich auch SA-Chef Ernst Röhm. Doch ohne realistische Aussicht auf eine Machtübernahme (und damit die Chance auf jede Menge Posten und Pöstchen) hätte die braune Miliz wohl bald viele ihrer Anhänger verloren. SS-Chef Heinrich Himmler war Anfang 1933 noch nicht annähernd so mächtig wie im Sommer 1934.
Drittens wäre der Wirbelsturm der „nationalsozialistischen Revolution“, der vom 30. Januar 1933 bis Ende des Jahres durch Deutschland fegte, sicher ausgeblieben: Derlei entsprach schlicht nicht Gregor Strassers Naturell. Eher hätte sich ein Bündnis aus „moderaten“ Nazis, konservativen Eliten und reaktionären Kräften der Gesellschaft ergeben.
Mittelfristig hätte es vermutlich trotzdem einen Revanchekrieg gegen Polen gegeben. Jedoch eher nicht einen Feldzug gegen die Kontinentalmacht Frankreich und sicher nicht gegen die Sowjetunion – beide Angriffe waren Ausdruck von Hitlers ganz persönlicher Art, Vabanque zu spielen ohne Rücksicht auf die Risiken.
Sicher kann zudem sein, dass eine Regierung Schleicher-Strasser den Holocaust nicht organisiert hätte. Denn selbst viele NS-Anhänger nahmen den pathologischen Rassenhass Hitlers und Goebbels’ bis Anfang 1933 eher hin als ihn aktiv zu unterstützen. Zur treibenden Kraft beim millionenfachen Judenmord wurden jüngere, oft gut ausgebildete SS-Funktionäre, die der Berliner Historiker Michael Wildt die „Generation des Unbedingten“ nennt, für die aber die SS erst nach der Machtübernahme Hitlers attraktiv wurde.
Allerdings muss alles Nachdenken über denkbare abweichende Verläufe der weiteren Ereignisse Spekulation bleiben; die Alternative zu Hitler wurde eben nie umgesetzt. Trotzdem schärft das Nachdenken darüber das Verständnis der tatsächlichen Geschehnisse.
Übrigens hatte das Taktieren Schleichers und Strassers im Januar 1933 rund 17 Monate später tödliche Folgen: Sowohl der ehemalige Kanzler als auch der frühere Reichsorganisationsleiter der NSDAP wurden, obwohl sie sich nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler betont zurückgehalten hatten, am 30. Juni 1934 während des „Röhm-Putsches“ erschossen, der ehemalige General sogar mit seiner Frau. Offensichtlich hatte der „Führer“ ihnen die Herausforderung sehr übel genommen.
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