Die Dosis macht das Gift. Diese Erkenntnis ist spätestens seit dem Arzt Paracelsus (1493/94 bis 1541) kein Geheimwissen mehr: Alles kann durch ein Übermaß zur Gefahr werden. Das gilt auch für die Beschäftigung mit Vergangenheit. Doch was Apologeten des Nationalsozialismus gern deutschen Historikern und Politikern vorwerfen, ist in Wirklichkeit anderswo zu beobachten: in Russland.
„Mit einer Überdosis Historie radikalisierte Putin sich selbst und die russische Öffentlichkeit“, schreibt Michael Thumann, der Moskau-Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“, in seinem neuen Buch „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“ ( C. H. Beck München 2023. 288 S., 25 Euro). Und er bietet dafür reichlich Anschauungsmaterial.
Seit Jahren schon sieht sich der Kreml-Herr offenbar in derselben Liga wie die Zaren Peter I. und Alexander III., allerdings gewürzt mit der eigenwilligen Kombination von Unnahbarkeit und Personenkult wie zu Josef Stalins Zeiten. Auftritte im Prunk barocker Paläste mit Wachen in russischen Uniformen aus napoleonischer Zeit sind an die Stelle früherer Inszenierungen als Naturbursche mit nacktem Oberkörper in der Wildnis getreten. Immer hinein mischt Putin eine Prise „Großer Vaterländischer Krieg“, also die zentrale Erfahrung der meisten Menschen unter russischer Herrschaft im 20. Jahrhundert, der ungeheuer brutale, am Ende siegreiche Abwehrkampf gegen die deutsche Invasion 1941.
Zutreffend fasst Thumann, der Russland seit seinem Studium in Moskau und (damals noch) Leningrad kennt, die drei wesentlichen Thesen Putins zum Hintergrund seines Angriffskrieges zusammen. „Erstens: Die Ukraine sei kein Staat, sondern eine Variation von Russland und, wenn überhaupt, eine Erfindung der Sowjetunion. Zweitens: Russen und Russischsprachige hätten in der Ostukraine einen Genozid erlitten, Neonazis seien am Werk. Drittens: Der Westen habe Russland 1990 bei der Wiedervereinigung Deutschlands betrogen und die Nato entgegen allen Versprechen erweitert.“
Wahr daran ist jedoch exakt: nichts. Keine der drei zentralen Behauptungen des russischen Präsidenten stimmt auch nur zum Teil, analysiert Thumann. Trotzdem finden sie in unterschiedlichem Maße Beifall im Westen, besonders in Deutschland. Der „Zeit“-Journalist sagt es nicht so deutlich, aber es ist dennoch wahr: Wer etwa die Lüge vom angeblich gebrochenen Versprechen der Nato weitererzählt, macht sich der Beihilfe zur Kriegspropaganda des Kremls schuldig.
Der Reihe nach: Gibt es überhaupt eine ukrainische Nation? Putin bezieht sich bei seiner Behauptung auf die Zeit des osteuropäischen Reiches Rus im 10. bis 13. Jahrhundert. Diese Herrschaft, die etwa die heutige Ukraine, das heutige Belarus sowie die westlichen Teile Russlands bis etwa Ustyug (heute Weliki Ustjug), Nischni Nowgorod und Kursk umfasste, nicht jedoch den Kaukasus, die Anrainergebiete des Schwarzen Meeres und die Krim, ging in Angriffen der Mongolen im Hochmittelalter unter. Das Reich der Zaren, in dessen Tradition das heutige Russland tatsächlich steht, entstand erst im 16. Jahrhundert aus dem Großfürstentum Moskau. Die Ukraine verleibte sich dieses Reich erst im 18. Jahrhundert ein, die Krim sogar erst 1783.
„Der russischen Herrschaft zum Trotz entstand im 19. Jahrhundert eine ukrainische Nationalbewegung, die nicht weniger lebendig war als die anderer osteuropäischer Völker“, schreibt Thumann: „Sie wurde in Russland genauso unterdrückt wie die polnische Nationalbewegung.“ Putins völkische Deutung der Ukrainer als verdorbene Russen geht zurück auf den Moskauer Innenminister Pjotr Walujew. 1863 behauptete er in einem Rundschreiben: „Eine eigene kleinrussische Sprache hat es nie gegeben, gibt es jetzt nicht und wird es nie geben.“ Der Sound klingt noch 160 Jahre später, im Jahr 2023, unangenehm vertraut.
Auf die jüngste Vergangenheit zielt das zweite pseudohistorische „Argument“ Putins für seine Aggression: In der östlichen Ukraine, vor allem im Donbass, und auf der Krim habe es bis 2014 einen antirussischen Genozid gegeben, verübt von Vertretern der unabhängigen Ukraine. Um dieses vermeintliche Verbrechen zu beenden, habe Russland eingreifen müssen.
Hier zeigt sich, dass die maßlose Ausdehnung des an sich sinnvollen Begriffs „Genozid“ fatale Folgen hat. Denn Völkermord gilt seit 1945 zu Recht als ein akzeptabler Grund für Interventionen. So konnte der Sturz des steinzeitkommunistischen Regimes von Pol Pot in Kambodscha durch vietnamesische Truppen um den Jahreswechsel 1978/79 zumindest auch mit der Beendigung des Genozids an der eigenen Bevölkerung begründet werden, wiewohl andere Gründe auch eine Rolle spielten.
Doch von einem „Genozid“ in der Ostukraine oder überhaupt in der Ukraine konnte nie auch nur ansatzweise die Rede sein. Thumann zitiert einen Bericht der Vereinten Nationen von 2021, der feststellte: Von 2014 bis Ende Januar 2021 starben im Donbass rund 3400 Zivilisten durch Gewalt, darunter sowohl ukrainische wie russische Staatsbürger. 58 Prozent von ihnen verloren bei Explosionen von Minen oder Blindgängern ihr Leben. Fast 90 Prozent dieser getöteten Zivilisten starben 2014 und 2015; seither ist die Zahl stark gesunken: 2020 gab es noch 26 registrierte derartige Todesfälle, 2021 noch 25. Thumann bilanziert: „Die abnehmenden Zahlen belegen unzweifelhaft, dass es sich bei Putins Genozid-Klage um eine Lüge handelt.“
Bleibt die dritte Behauptung, die besonders in Deutschland auf viel Zustimmung gestoßen ist, bei linken Politikern wie Gregor Gysi oder Sahra Wagenknecht, aber ebenso bei Rechtsextremisten wie dem AfD-MdB Petr Bystron – und sogar beim Hamburger Magazin „Spiegel“: Die Nato habe Russland im Zuge der Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands versprochen, die Nato nicht nach Osten zu erweitern.
Die Behauptung ist mindestens dreifach falsch. Zunächst hat es nie ein „Versprechen“ des Westens gegeben, Staaten des früheren Warschauer Paktes nicht in die Nato aufzunehmen – und zwar schon deshalb, weil das nie ernsthaft zur Debatte stand. Zwar hat sich Bundesaußenminister Hans Dietrich Genscher Anfang 1990 einmal in diesem Sinne geäußert, doch versprechen konnte er überhaupt nichts. Er kam auf seinen verfehlten Vorschlag auch niemals zurück.
Außerdem akzeptierte Russland in den 1990er-Jahren wiederholt, etwa im Budapester Memorandum von 1994 und in der Nato-Russland-Grundakte von 1997, sowohl die territoriale Integrität der Ukraine wie das Recht jedes Staates auf Bündnisfreiheit; von angeblichen „Einflusssphären“ war hingegen nie die Rede. Sogar Putin selbst müsste es besser wissen, wenn er denn ehrlich wäre. Am 5. März 2000, ein knappes Jahr nach unter anderem Polens Beitritt zur Nato, stellte er noch als kommissarischer Präsident Bedingungen für einen Beitritt seines eigenen Landes zur Nato. Im Interview mit der BBC sagte er: „Russland muss allerdings als gleichberechtigter Partner anerkannt werden.“ Vom angeblichen „Verrat“ keine Spur.
Schließlich war es ja gerade nicht die Nato, die ostmitteleuropäische Staaten in ihr Bündnis „lockte“. Im Gegenteil ging jeder Erweiterung eine lange Diskussion voraus – und zum Beispiel 2008 scheiterte die Ukraine mit ihrem Wunsch, aus Sorge vor russischer Aggression in die Nato aufgenommen zu werden. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel bremste dieses Begehren aus, sodass nur eine vage Freude über den Wunsch übrig blieb. Vielleicht der Beginn des aktiven Appeasements Merkels gegenüber Russland, das direkt zum Angriffskrieg führte.
Thumanns Buch schildert den selbst ernannten „Geschichtsvollzieher“ Putin materialreich und argumentativ abgewogen. Klar wird auf jeder Seite, wer (genauer: was) für die Eskalation verantwortlich ist: das grundlose, deshalb aber nicht weniger tief empfundene Gefühl der Demütigung Putins und seiner Kamarilla aus Oligarchen und Geheimdienstlern durch das Ende der imperialistischen Sowjetunion 1991.
Er wollte die Rückkehr seiner Heimat zum vermeintlichen Ansehen früherer Zeiten erreichen, doch das war immer verfehlt, denn in Wirklichkeit wurde Russland nie ernsthaft bewundert, sondern immer nur gefürchtet. Das Ergebnis seiner Politik jedoch ist das Gegenteil: „Putins unbändige Zerstörungswut trifft nun die Ukraine, sein eigenes Land – und womöglich die Welt.“
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