Lange hat es gedauert, bis westliche Regierungen sich dazu aufrafften, das Verbot aufzuheben, die Ukraine dürfe empfangene Waffen nicht gegen russisches Territorium einsetzen. Damit ist es gottlob vorbei, und auch Berlin sieht sich angesichts des Einlenkens der Nato gezwungen, seine friedenspolitischen Vorbehalte gegenüber dem Einsatz auch deutscher Waffen im Arsenal der Ukraine, die russisches Territorium treffen könnten, aufzugeben.
Derweil steigert Russland sein Propaganda-Feuer gegen „die Nazi-Invasion“ ins Hysterische. Immer häufiger greift der Kreml dabei auf ein Horror-Szenario zurück: Moskau werde auch vor dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen „zur Verteidigung russischer Erde“ nicht zurückweichen.
Reichweite – auch Putin braucht maximale Reichweiten in einem Krieg, den er, weit über die Ukraine hinaus, mit dem Westen führt. Es ist ein psychologischer Kampf, unter dem Einsatz hoch bewaffneter Worte, wenn nicht mehr.
Dennoch treffen Analogien mit der Kuba Krise anno 1962 nicht zu, da Putin aus dem Rahmen kalkulierbarer Schritte herausfällt, die den damaligen Sowjetführer Chruschtschow zum Rückzug von der Karibik-Insel bewogen. Er spielt geradezu mit Unberechenbarkeit und schürt damit den Wunsch nach Frieden in Kreisen, deren Nerven der nuklearen Rhetorik nicht gewachsen sind. So bleibt er siegesgewiss, mit der Reichweite des terroristischen Kitzels auf seiner Seite.
Ein EU-Wahlplakat der neuen Partei Bündnis Sahra Wagenknecht – „Krieg oder Frieden? Ihr habt jetzt die Wahl“ – verrät, wie geschickt Wagenknecht den Furchtfaktor in ihrem – und Putins – Interesse einsetzt. Dabei wissen wir seit dem 24. Februar 2022, dass, wer auf Putins Frieden baut, sich allemal Krieg einhandelt, so wie Hitlers Einmarsch in Prag am 15. März 1939 dem „Frieden“ von München im September 1938 den Garaus machte.
Die Reichweite der Waffen im Krieg um die Ukraine hängt wesentlich davon ab, ob Freiheit heute noch in der Seele des herausgeforderten Westens die Rolle spielt, wie sie in Perikles‘ berühmtem Diktum aufscheint: „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, die Voraussetzung der Freiheit aber ist der Mut.“ Der Mut, dem verbrecherischen Vorgehen eines Diktators in den Weg zu treten und damit die eigene Sicherheit zu festigen.
In seinem jüngsten Buch „Frühling 1940: Wie die Menschen in Europa den Westfeldzug erlebten“ zitiert der Autor Raffael Scheck, der am Welby College in Maine Geschichte unterrichtet, einen französischen Offizier mit der Einschätzung, „dass kein Franzose wirklich wusste, wofür er kämpfte“. Die Bedeutung der Freiheit sei in den Jahren nach 1918 vergessen worden, und die jungen Leute hätten nur „leben und überleben wollen“. Ähnliches galt für weite Kreise der englischen Gesellschaft.
Ein anderer verlässlicher Beobachter jener Jahre, Friedrich Sieburg, rief in seinen Erinnerungen an die Vorkriegszeit in Frankreich „die Willensschwäche der Menschen in Frankreich Ende der Dreißigerjahre“ wie einen Zeugen herbei: „Um des Glücks willen, morgen früh in derselben Welt aufzuwachen und ihre vertrauten Lebensgewohnheiten fortsetzen zu können, hatten sie ihre Zukunft aufs Spiel gesetzt. Sie hatten keinen Sinn für Krisen.“
Mächtig wie immer ist die Versuchung zum Appeasement eines auftrumpfenden Gegners. Darin zumindest hat der Westen, hat die Nato aus der Vergangenheit gelernt, wenn auch in zuweilen zögernden Schritten. Ein weiterer wäre nötig: Der Öffentlichkeit die auch Russland zerstörenden Implikationen von Putins Hazardspiel vor Augen zu führen und ihm damit einen Teil seines Räsonnements zu entziehen, als sei er der einzige Besitzer nuklearer Optionen.
Reichweite gegen Reichweite: Was ein Chruschtschow wusste, die Einschränkung jeder Macht durch das Gegenüber, kann einem Putin nicht fremd sein. Es kommt darauf an, ihm diese Wahrheit einzuflößen. Mit der Rhetorik der Friedenssänger wird das nicht gelingen.