Die Bilder und Berichte aus Butscha, Borodjanka und anderen ukrainischen Orten verstören: In Regionen, die die Ukrainer nach der Besetzung durch russische Truppen befreiten, liegen unter anderem Leichen gefesselter Zivilisten, die mit Kopfschüssen ermordet wurden. Außerdem berichten zahlreiche Frauen und Mädchen, russische Soldaten hätten sie vergewaltigt.
Historisch interessierte Betrachter aus Deutschland denken dabei fast zwangsläufig an den ostpreußischen Ort Nemmersdorf und an die Massengewalt in Gebieten, die 1944/45 von der Roten Armee erobert worden waren. Allerdings zeigt gerade das Stichwort Nemmersdorf, wie durch Propaganda und Gegenpropaganda auch zweifellos schlimme Vorkommnisse noch instrumentalisiert werden können.
Trotzdem stellt sich angesichts der Verbrechen im Angriffskrieg gegen die Ukraine die beunruhigende Frage neu: Ist die russische Armee wie vor ihr die sowjetische, die Rote und die zarische Armee, traditionell und strukturell brutaler als die Armeen beispielsweise der USA, Großbritanniens oder Frankreichs im 20. Jahrhundert? Und wie fällt ein Vergleich mit der deutschen Wehrmacht aus, die nicht nur, aber besonders in den besetzten Gebieten der Sowjetunion 1941 bis 1944 zahllose Kriegsverbrechen begangen hat?
Russland hat erst relativ spät, nämlich 1874, eine der Form nach modern konzipierte Armee eingeführt – also eine umfassend ausgebildete Truppe statt oft zufälliger Massenaushebungen. Bis dahin waren einfache Soldaten unter der Landbevölkerung zwangsrekrutiert worden und mussten formal oft mehr als zehn Jahre in der Armee bleiben, in der Praxis waren es acht. Deshalb galten Söhne, wenn sie eingezogen wurden, in ihren Familien faktisch als tot. Nur wenige kehrten in ihre Dörfer zurück.
Doch eine so zusammengesetzte Armee war nach den großen Verlusten im Krimkrieg (1853 bis 1856) gegen England, Frankreich und das Osmanische Reich für den russischen Staat nicht mehr sinnvoll und auch nicht zu bezahlen. Russland benötigte vielmehr eine deutlich kleinere, dafür aber besser ausgebildete Armee. Sie sollte ähnlich wie gleichzeitig in Deutschland und Frankreich, aber anders als in Großbritannien und den USA, auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhen. Diese Reform scheiterte allerdings weitgehend – aus mehreren Gründen.
Erstens blieb das zarische Heer eine Klassengesellschaft, ebenso wie 1917 bis 1945 die Rote Armee und anschließend bis 1991 die sowjetischen Streitkräfte, was sich bis heute fortsetzt: „Russlands Armee ist ein Gefängnis, in dem Rekruten tyrannisiert, gedemütigt und gebrochen werden“, sagt der Berliner Stalinismus-Experte und Gewaltforscher Jörg Baberowski: „In ihr dienen keine Staatsbürger in Uniform.“
Als wesentliche Ursache für diese Fortdauer des Klassensystems identifiziert der Osteuropa-Historiker Manfred Hildermeier die ab 1874 geltende Bildungsprivilegierung in der russischen Armee: Je höher der Schulabschluss von Rekruten, desto geringer war ihre vorgeschriebene Dienstzeit; wer eine Hochschule besucht hatte, wurde schon nach sechs Monaten Wehrpflicht freigegeben. „Die Privilegierung von Bildung durch verkürzte Dienstzeiten entzog der Armee eben jene Qualifikation, die sie eigentlich gebraucht hätte“, schreibt Hildermeier.
Ein zweiter Grund für das Fortdauern gesellschaftlich vormoderner Strukturen in der russischen Armee von der Zarenzeit bis in den Putinismus (mit entsprechenden Folgen für die Einsatzbereitschaft und für die Disziplin gegenüber Wehrlosen): Ein professionell ausgebildetes Unteroffizierskorps, das für die westlichen Armeen im 19. und 20. Jahrhundert charakteristisch war, gab es nie.
Die Wehrmacht profitierte besonders vom Prinzip der „Primärgruppen“, wie der Potsdamer Militärhistoriker Sönke Neitzel schreibt: „Jede Kompanie scharte sich um eine Kerngruppe erfahrener Obergefreiter und Unteroffiziere, die zumeist schon Jahre bei den Männern waren, den Ersatz in die Gruppe einführten und den Neuen in den schwersten Stunden des Kampfes sagten, was sie zu tun hatten.“ Diese „kleinen Kampfgemeinschaften“ waren „sozialer Zufluchtsort und Familienersatz, boten Geselligkeit und Geborgenheit“. In ihrem Rahmen „spielte sich Kameradschaft ab, stand man sich bei und half einander, den Krieg zu überstehen“.
Auch nur ansatzweise Ähnliches gab es (und gibt es nach neueren Berichten) in keiner russischen Armee; hier herrschte stattdessen stets ein Gewaltregime gegenüber einfachen Soldaten, das sich im Frieden in oft grausamen Exzessen schon länger gedienter Mannschaftsdienstgrade an Rekruten auswirkte, bekannt als „Herrschaft der Großväter“ (russisch „Djedowschtschina“). Im Kampfeinsatz kann das – neben entsprechenden Befehlen von Offizieren – ebenfalls zur Entgrenzung von Gewalt gegen die andere Seite führen. Dann meist gegen Zivilisten, besonders Frauen.
Drittens galt und gilt wohl immer noch in der russischen Armee das Leben einfacher Soldaten wenig bis nichts. Berüchtigt sind beispielsweise die „Sperrabteilungen“, deren Einrichtung Josef Stalin am 28. Juli 1942 in seinem Befehl Nr. 227 anordnete: „Im Armeebereich sind drei bis fünf gut bewaffnete Einheiten (bis 200 Mann) aufzustellen, die unmittelbar hinter unzuverlässigen Divisionen einzusetzen sind und die Aufgabe haben, im Falle eines ungeordneten Rückzugs der vor ihnen liegenden Divisionen jeden Flüchtenden und jeden Feigling zu erschießen und damit dem ehrlichen Kämpfer bei der Verteidigung seiner Heimat beizustehen.“
In Stalingrad jagten diese meist dem NKWD zugeteilten Blockadebataillone Zehntausende Rotarmisten, oft sogar unbewaffnet, in Richtung der deutschen Linien. Ähnliches folgte ab Oktober 1943 bei den insgesamt fünf „Autobahnschlachten“ im russisch-belarussischen Grenzgebiet. Entlang des von deutschen Truppen „Rollbahn“ genannten gerodeten Streifen mit einer einigermaßen befestigten Landstraße in der Mitte, der von Smolensk nach Minsk führte, trieben Vorgesetzte immer wieder neue Verbände auf die gut ausgebauten deutschen Stellungen.
Bei diesen Kämpfen beklagte die Rote Armee bis März 1944 mehr als 530.000 Tote und Verwundete, ohne irgendeinen Erfolg zu erzielen; die Wehrmacht zählte 10.500 Tote und Vermisste sowie 25.000 Verwundete. Die Sowjetunion nahm also Verluste in Kauf, die fast zwölfmal so hoch waren wie die des Gegners. So eine erlebte Rücksichtslosigkeit hatte natürlich enorme Auswirkungen auf die Gewaltbereitschaft einfacher Soldaten.
Spezifisch russisch ist ein vierter Grund für die strukturelle Brutalität russischer Streitkräfte: die im Zarenreich ebenso wie in der Sowjetunion und auch heute übliche privilegierte Stellung von Gardetruppen selbst im stehenden Heer. Sie führt zwangsläufig dazu, dass andere Einheiten (heute „Allgemeine Armeen“ genannt) benachteiligt werden. Gardeverbände waren und sind besser ausgestattet und wurden von der politischen Führung nie ganz so rücksichtslos verheizt. Im August 2019 gab es zum Beispiel bei den russischen Landstreitkräften drei Garde- gegenüber neun Allgemeinen Armeen.
Diese Unterscheidung hat nichts gemein mit der in westlichen Armeen üblichen Differenzierung in Spezialkräfte und normale Truppen. Einerseits hatten und haben die sowjetischen bzw. russischen Gardeeinheiten einen weitaus größeren Anteil an der Gesamtstärke. Andererseits gab und gibt es natürlich ebenfalls den westlichen Special Forces wie den US-amerikanischen Navy Seals entsprechende Verbände, die Speznas.
Die Trennung in Garde und schlichte Linientruppen erklärt sich mit dem tiefverwurzelten Misstrauen russischer Machthaber gegenüber ihrem Militär. Zar Nikolaus II. ließ die Revolution von 1905 von der Garde niederschießen. Unter Stalin kontrollierte ein Heer politischer Kommissare alle Kommandeure, von denen viele zudem ein Opfer der Großen Säuberungen 1935 bis 1938 wurden. Und heute unterhält die Regierung in Moskau zahlreiche Elitetruppen außerhalb des eigentlichen Militärs; sie kamen zuletzt im Januar 2022 in Kasachstan zum Einsatz.
Alle russischen Streitkräfte vom Zarenreich bis zum Putin-Regime waren stets totalitär organisierte Institutionen. Das ist der wesentliche Unterschied zu den westlichen Armeen im 20. Jahrhundert, deren Angehörige zwar ebenfalls durchaus in verschiedenen Kriegen wie auf den Philippinen, im Zweiten Weltkrieg, in Algerien oder Vietnam Kriegsverbrechen begingen, aber doch in einem substanziell geringeren Ausmaße. Den Befund bestätigt ein Vergleich mit den Verbrechen der Wehrmacht: Truppen eines totalitären Regimes neigen weitaus stärker zu Verbrechen gegen wehrlose Zivilisten als die Streitkräfte aus demokratischen Staaten.
Die Gewalt, die russische Mannschaftsdienstgrade vielfach erfahren haben, kann sich und hat sich vielfach im Einsatz in Form von Plündern, Marodieren und Vergewaltigen entladen. Offenbar wird die Welt in den Gräueln des Angriffskrieges gegen die Ukraine davon erneut Zeuge.
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