Wer 1,6 Prozent einer geschuldeten Leistung nicht fristgerecht bezahlt, verstößt gegen vertraglichen Pflichten und gehört sanktioniert. Allerdings muss die Strafe verhältnismäßig sein, denn 1,6 Prozent sind nicht zehn, nicht 20 und nicht 40 Prozent. Wegen eines solch kleinen Fehlbetrages das ganz große Besteck herauszuholen, ist sicher unangemessen.
In der zweiten Januar-Woche 1923 erhöhte Frankreichs nationalistische Regierung unter Ministerpräsident Raymond Poincaré den Druck auf Deutschland massiv. Die bis zum Jahresende 1922 laut Versailler Vertrag und Folgeabkommen geschuldeten Reparationen waren nicht ganz geleistet worden – es fehlten Sachlieferungen im Wert von 24 Millionen Goldmark, etwa 1,6 Prozent aller Forderungen; „nur“ 98,4 Prozent waren bezahlt.
Trotz dieses kleinen Fehlbetrages stellte die Reparationskommission der Siegermächte am 9. Januar 1923 mehrheitlich fest, dass Sanktionen zulässig seien. Sie folgten umgehend: Die Reichsregierung erfuhr ganz offiziell am 10. Januar, französische, belgische und italienische Ingenieure sollten die deutschen Bergwerke überprüfen; sie würden dabei von den „erforderlichen Truppen“ begleitet werden.
Schon einen Tag später erwies sich, dass die Kommission nicht weniger als sechs Divisionen, eine belgische und gleich fünf französische, als nötig für diesen „Schutz“ erachtete. Die Soldaten rückten aus den ohnehin besetzten rechtsrheinischen Brückenköpfen Düsseldorf und Duisburg ins Ruhrgebiet ein, das industrielle Herz Deutschlands.
Die Folge im Reich war ein kollektiver Aufschrei von links bis rechts, von Gewerkschaften und Sozialdemokraten bis zu den reaktionären Deutschnationalen. Am 13. Januar rief Reichskanzler Wilhelm Cuno, ein parteiloser, aber den nationalliberalen nahestehender Manager, den „passiven Widerstand“ aus: Überall im besetzten Ruhrgebiet und in den linksrheinischen Regionen Deutschlands traten die Menschen in den Ausstand. Beamte durften Befehle der Besatzungsoffiziere nicht ausführen, Eisenbahner fuhren ihre Lokomotiven und Waggons in unbesetzte Gebiete, Stellwerksarbeiter demontierten Bedientafeln und versteckten sie, Straßenschilder und Wegweiser wurden abgeschraubt.
Die französischen und belgischen Truppen sollten eigentlich nur den Abtransport von Holz und Kohle überwachen, aber so gut wie kein Bewohner des Ruhrgebiets war bereit, für sie zu arbeiten. Nun drangen vor allem französische Soldaten in Zechen und Fabriken ein. Als Strafmaßnahme beschlagnahmten sie in Banken und Kassen öffentliche Gelder sowie Firmenguthaben. Besonders renitente Deutsche wurden bald aus dem besetzten Gebiet verwiesen.
Der Ruhrkampf hatte begonnen. Der deutsche Staat zahlte den dauerstreikenden Arbeitern einen Großteil ihres Lohnes. Dafür wurde noch einmal mehr Papiermark gedruckt, was die seit Kriegsende offen grassierende Inflation enorm anheizte – gegenüber der goldgedeckten Mark von 1914 hatte die Papiermark inzwischen nur noch knapp ein Tausendstel ihres Wertes. In wenigen Monaten verfiel die Währung weiter, und zwar auf etwa ein Milliardenstel vom Januar 1923: Im November, kurz vor der Währungsreform, entsprach ein (weiter goldgedeckter) US-Dollar 4,2 Billionen Papiermark. Diese Geldentwertung prägte Deutschland für Generationen.
Nicht immer blieb der Widerstand passiv: Kleinere Gruppen gingen mit terroristischen Methoden gegen die Besetzung des Ruhrgebiets vor. In Essen führte der frühere Freikorpskämpfer Leo Schlageter zunächst zehn, später nur noch sieben Mann an, die „im engsten Einvernehmen mit der Essener Polizeibehörde“ die „Verfolgung des französischen Spitzeldienstes“ übernahmen; dazu gehörte möglicherweise der Mord an einem deutschen Kommunisten, der die Besatzungstruppen angeblich mit Informationen versorgt haben sollte.
Auch zwei kleinere Sprengstoffanschläge auf Gleisanlagen im Ruhrgebiet beanspruchte Schlageter für seine Gruppe. Nach wenigen Wochen nahm die französische Polizei, die wegen der Arbeitsverweigerung der deutschen Behörden im besetzten Territorium für Sicherheit zuständig war, ihn fest – Schlageter war unter seinem echten Namen in einem Essener Hotel abgestiegen, obwohl er über einen gut gefälschten Pass mit einer unverdächtigen Identität verfügte.
Beiden politischen Extremen kamen die Ruhrbesetzung Ruhrkampf und der passive Widerstand dagegen ungelegen. Das Berliner Büro Varga, eine Art Thinktank der kommunistischen Bewegung in Mitteleuropa, verfasste schon Mitte Januar 1923 eine Empfehlung, in der es hieß:
„Das Entstehen der konterrevolutionären Einheitsfront, die von einer starken Massenbewegung der Nationalsozialisten begleitet werden könnte und die zu einer darauffolgenden restlosen Entrechtung der Arbeiterschaft, d. h. des endlichen Sieges der kapitalistischen Offensive führen würde, ist in Deutschland zu verhindern nur durch die Einheitsfronttaktik mit allen Konsequenzen, nicht allein als ein Mittel zur Zertrümmerung der Sozialdemokratie, sondern in erster Linie als eine Sammelparole zur Organisierung der Verteidigung der letzten Arbeiterrechte.“
Entsprechend lehnte die KPD eine national geeinte Abwehr der Ruhrbesetzung ab und forderte stattdessen, „den Kampf gegen die eigene Bourgeoisie zu richten“. Solches Taktieren aber stieß die empörte Arbeiterschaft im Ruhrgebiet und darüber hinaus ab, statt irgendwen für die Kommunisten zu gewinnen.
Für die NSDAP war die Entwicklung sogar gleich doppelt problematisch. Erstens mobilisierte das französisch-belgische Vorgehen die Massen; Hitler befürchtete, dass seine Bewegung in der Welle der nationalen Empörung ihr bisheriges Alleinstellungsmerkmal einbüßen könnte. So beschränkte er sich in den zwei Wochen nach der Ruhrbesetzung in einem halben Dutzend Reden darauf, mit nochmals schärferen Worten die „Novemberverbrecher“ in Berlin anzugreifen und sie, trotz des ausgerufenen passiven Widerstandes, verantwortlich zu machen für die Eskalation. Dabei konnte er nicht überrascht sein vom Vorgehen der Entente-Mächte, denn genau einen Monat vorher hatte er öffentlich verkündet: „Im Januar werden die Franzosen das Ruhrgebiet besetzen.“
Gleichzeitig verlangte er von seinen Anhängern, sich bei den Protesten gegen die Ruhrbesetzung zurückzuhalten, und kündigte die Zusammenarbeit mit anderen politisch aktiven rechten Gruppen, vor allem „Wehrverbänden“ aus meist jungen Frontveteranen des Weltkrieges, auf. Doch während er gegen Berlin hetzte, beeindruckten die Vaterländischen Verbände am 14. Januar 1923 mit einer antifranzösischen Großkundgebung auf dem Münchner Königsplatz; die NSDAP und die SA hielten sich weisungsgemäß von dieser Veranstaltung fern.
Zweitens waren Italiener an der Ruhrbesetzung beteiligt, wenn auch nur durch Experten in kleiner Zahl und nicht mit eigenen Truppen. Hitler aber hatte gerade erst demonstrativ den Schulterschuss mit der neuen faschistischen Regierung in Rom gesucht. Dass Mussolini intern tatsächlich vermitteln wollte, wie der italienische Botschafter in Berlin gegenüber Kanzler Cuno ausführte (allerdings nicht um Deutschlands Interessen willen, sondern aus Sorge, Frankreich könnte zu mächtig werden), half der NSDAP bei ihrem Problem nicht: Derlei war in der erhitzten öffentlichen Stimmung im Januar kaum zu vermitteln.
„Die in den vergangenen Monaten zu einem überaus ernst zu nehmenden Faktor vor allem in der bayerischen Politik angewachsene nationalsozialistische Bewegung hat in der jüngsten Zeit einen zweifachen Echec (Misserfolg; d. Red.) erlitten“, meldete Österreichs Generalkonsul in München nach Wien: „Die mannhafte, nationale und einheitliche Haltung der Arbeiterschaft im Ruhrgebiet hat zur Folge gehabt, dass zahlreiche Mitläufer der nationalsozialistischen Bewegung sich nunmehr von ihr abwenden, da die konstante Hetze gegen die internationale Sozialdemokratie bei den gegenwärtigen Zeiten ihnen ebenso unangebracht als ungerecht erscheint.“
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