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Geschichte Kubakrise 1962

Als die Welt am atomaren Abgrund stand

Einige lang gestreckte Objekte auf einem Foto: Mehr sah Dino Brugioni nicht. Daraus entwickelte sich im Oktober 1962 die Kubakrise – der Höhepunkt des Kalten Krieges. Mit eisernen Nerven entschärfte US-Präsident John F. Kennedy die Konfrontation.
Leitender Redakteur Geschichte
WASHINGTON - OCTOBER 1962: (EDITORIAL USE ONLY) (FILE PHOTO) A spy photo of a medium range ballistic missile base in San Cristobal, Cuba, with labels detailing various parts of the base, is shown October 1962. Former Russian and U.S. officials attending a conference commemorating the 40th anniversary of the missile crisis October 2002 in Cuba said that the world was closer to a nuclear conflict during the 1962 standoff between Cuba and the U.S., than governments were aware of. (Photo by Getty Images) Getty ImagesGetty Images WASHINGTON - OCTOBER 1962: (EDITORIAL USE ONLY) (FILE PHOTO) A spy photo of a medium range ballistic missile base in San Cristobal, Cuba, with labels detailing various parts of the base, is shown October 1962. Former Russian and U.S. officials attending a conference commemorating the 40th anniversary of the missile crisis October 2002 in Cuba said that the world was closer to a nuclear conflict during the 1962 standoff between Cuba and the U.S., than governments were aware of. (Photo by Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Eine sowjetische Atomraketenstellung auf Kuba Ende Oktober 1962, aufgenommen im Tiefstflug von Navy-Aufklärern
Quelle: Getty Images

Auf den ersten Blick hatte er nichts erkannt, ebenso wenig auf den zweiten – und selbst der 20. brachte noch keinen Durchbruch. Stunden musste Dino Brugioni auf die Fotos starren, bis ihm das entscheidende Detail auffiel. Der 40-jährige Geheimdienstspezialist beugte sich an diesem 15. Oktober 1962 über Bilder, die am Vortag von einem U-2-Spionageflugzeug beim Flug über Kuba aufgenommen worden waren.

Plötzlich entdeckte er genau das, wonach er gesucht hatte: Auf einer Landstraße rollten als Teil eines Konvois von Fahrzeugen mindestens drei ungewöhnlich lang gestreckte, relativ schmale Objekte, und etwas östlich davon standen sechs weitere ähnliche Konstruktionen auf offenbar kürzlich bewegter Erde. Vergleichbare Gerätschaften kannte Brugioni aus Kuba bislang nicht: Für Lastwagen waren sie mit mehr als 24 Metern zu lang, und alles andere, was so eine Länge erreichen konnte, war deutlich breiter.

Dino Brugioni 1962 an seinem Schreibtisch im National Photographic Interpretation Center. Meist beugte er sich aber über Aufklärungsfotos
Dino Brugioni 1962 an seinem Schreibtisch im National Photographic Interpretation Center. Meist beugte er sich aber über Aufklärungsfotos
Quelle: The Washington Post via Getty Images

Brugionis Fund muss einige Aufregung ausgelöst haben. Anders ist kaum zu erklären, dass die nun auf der Aufnahme vermerkten Koordinaten vertauscht wurden: Statt korrekt 22 Grad 40 Minuten Nord 83 Grad 15 Minuten West stand auf mindestens einem Foto „22 40 W 83 15 N“. Immerhin der Name des nächstgelegenen Ortes stimmte: Los Palacios.

So beunruhigt über die Entdeckung war Brugionis Vorgesetzter Arthur Lundahl, dass er sich für den folgenden Morgen einen außerordentlichen Termin im Weißen Haus geben ließ. Als Direktor des National Photographic Interpretation Center (NPIC), faktisch der Luftbildauswertung des Geheimdienstes CIA, hatte der 47-Jährige das Recht dazu – freilich nur, wenn wirklich Wichtiges anlag. „Mr. President, ich bin so sicher, wie ein Fotoauswerter überhaupt sicher sein kann“, zitierte Brugioni später das Urteil seines Chefs gegenüber John F. Kennedy am 16. Oktober: „Ich bin überzeugt, dass es Raketen sind!“

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Und was für welche: Anhand von Vergleichsbildern konnten Brugioni und seine Kollegen darlegen, dass es sich bei den Objekten nur um Mittelstreckenraketen des sowjetischen Typs R-12 handeln konnte, im Nato-Code: SS-4. Der Kreml stationierte also tatsächlich Atomwaffen auf der Karibikinsel, wie CIA-Chef John McCone schon seit Wochen gewarnt hatte. Auf solche Pläne hatte eine Quelle des britischen Geheimdienstes in Moskau bereits im August 1962 hingewiesen. Informanten in Kuba bestätigten im September, dass die sowjetischen Truppen enorm verstärkt werden sollten – um mehr als 50.000 Mann. Dass sich also etwas zusammenbraute an der Südostflanke der USA, war gewiss gewesen.

NPIC-Arbeitsplatz-von-Brugioni
Der Arbeitsplatz von Dino Brugioni am NPIC 1962
Quelle: NSA / GWU / Brugioni / Public Domain

Brugionis Entdeckung schuf nun Klarheit. Kaum wussten seine Kollegen und er, wonach sie Ausschau halten mussten auf den U-2-Bildern, wurden sie fündig: In der Nähe von San Diego de Los Banos, etwa 20 Kilometer nordwestlich, erkannten sie acht weitere Raketentransporter sowie vier Objekte, die sie für Startrampen hielten, außerdem Zelte. Die Fotos zeigten: Noch waren die Waffen nicht einsatzbereit. Aber das konnte sich binnen Tagen ändern.

John F. Kennedy berief sofort einen Ausschuss aus Strategie- und Militärexperten, das Executive Committee of the National Security Council (ExComm), zu dem auch Arthur Lundahl gehörte. Vorerst sollten die beunruhigenden Informationen geheim bleiben. Der Präsident hatte dem Wunsch des sowjetischen Außenministers Andrej Gromyko entsprochen, ihn am 18. Oktober 1962 zu empfangen. Der Moskauer Chefdiplomat log zwar gewohnheitsmäßig, aber Kennedy wollte seine Absichten trotzdem persönlich ausloten.

Umgekehrt hatte Gromyko vor, den Präsidenten auf die Probe zu stellen. Das schreibt der Emeritus der Universität Dresden, Reiner Pommerin, in seiner jüngst erschienenen Darstellung der Kubakrise in der Reihe „Kriege der Moderne“ des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaft der Bundeswehr (Reclam Verlag, 160 S., 14,95 Euro): „Schließlich kam der Außenminister auf die von der Sowjetunion an Kuba gelieferten Waffen zu sprechen. Er betonte mit Nachdruck, diese Waffen seien keineswegs offensiver, sondern lediglich defensiver Natur.“

Soviet ambassador to the US, Anatoly F. Dobrynin and Soviet foreign minister Andrei Gromyko talking with President Kennedy who is seated in rocking chair, at the White House, Washington, D.C. during the Cuban missile crisis. (Photo by: Universal History Archive/UIG via Getty images) Getty ImagesGetty Images
Andrej Gromyko am 18. Oktober 1962 im Oval Office mit US-Präsident John F. Kennedy und Botschafter Anatoli F. Dobrynin. Der sowjetische Außenminister log bei fast jedem Wort
Quelle: Universal Images Group via Getty

Kennedy wiederholte, er beabsichtige keine Invasion Kubas, und las dann aus einer Erklärung vor, die er sechs Wochen zuvor abgegeben hatte. Besonders betonte er, es werde „schwerwiegende Folgen“ haben, falls die Sowjetunion offensive Boden-Boden-Raketen nach Kuba bringen sollte. „Offensichtlich verstand Gromyko diese Warnung jedoch nicht“, urteilt Pommerin. „Vielmehr berichtete er nach Moskau, im Hinblick auf Kuba sei die amerikanische Haltung vollkommen zufriedenstellend.“

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In den kommenden Tagen beriet das ExComm – wenn John F. Kennedy nicht zugegen sein konnte, übernahm sei Bruder Robert den Vorsitz – über alle möglichen Optionen. Die aus militärischer Sicht naheliegende war ein Überraschungsangriff auf die Raketenstellungen, bevor sie einsatzbereit waren, und eine anschließende Invasion Kubas. Dabei allerdings würden Hunderte, wenn nicht Tausende Sowjets umkommen, was unabsehbare außenpolitische Folgen haben würde. Das andere Extrem hieß: ignorieren. Das allerdings musste die Hardliner im US-Staatsapparat, die ohnehin mit den liberalen Kennedys wenig bis nichts anfangen konnten, in Rage versetzen – mit fatalen innenpolitischen Konsequenzen.

Vor diese Alternative gestellt, entschied sich Kennedy für eine Möglichkeit, die es eigentlich gar nicht gab: Er setzte auf eine Kombination von öffentlichem Protest, militärischem Druck bis an den Rand der kompletten Eskalation, diplomatischer Attacke und Geheimverhandlungen. Am 22. Oktober 1962 hielt der Präsident eine Ansprache an die Nation und kündigte eine „Quarantäne“ Kubas für militärische Lieferungen an, um die vollständige Ausrüstung der dortigen sowjetischen Verbände zu verhindern. Von der Organisation Amerikanischer Staaten erhielt das Weiße Haus dafür die formale, wenngleich völkerrechtlich wertlose Genehmigung.

Cuban missiles crisis. The missiles base, 1962-1963, Cuba, Photograph U.S. Air Force, . (Photo by: Photo12/Universal Images Group via Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Eine sowjetische Raketenstellung auf Kuba im Oktober 1962
Quelle: Universal Images Group via Getty

Am wichtigsten aber war wohl das Wortgefecht, das Kennedys ehemaliger Konkurrent in der Demokratischen Partei, Adlai Stevenson, im Weltsicherheitsrat suchte. Der als US-Botschafter zu den Vereinten Nationen (UN) abgeschobene zweimalige Präsidentschaftskandidat ging den sowjetischen UN-Botschafter Walerian Sorin frontal an: „Leugnen Sie, Herr Botschafter, dass die UdSSR Mittelstreckenraketen auf Kuba installiert? Ja oder Nein? Warten Sie nicht auf die Übersetzung! Ja oder Nein?“ Sorin, der bei dieser Tagung turnusgemäß den Vorsitz führte, steckte rhetorisch in der Defensive und konnte nur antworten: „Ich bin nicht in einem amerikanischen Gerichtssaal, Sir, und deshalb habe ich keine Lust, eine Frage zu beantworten, die mir gestellt wird, als stünde ich vor dem Staatsanwalt.“

Stevenson gab zurück: „Sie stehen hier vor dem Gerichtshof der Weltmeinung, und Sie können antworten. Ja oder Nein? Ich bin bereit, auf meine Antwort zu warten, bis die Hölle gefriert.“ Dann ließ er den Diplomaten und damit der Weltöffentlichkeit stark vergrößerte Aufnahmen der Raketenstellungen auf Kuba zeigen, die das NPIC mit Beschriftungen versehen hatte. Sie bewiesen, dass Sorin gelogen hatte – genauso wie Gromyko zuvor.

Das war der Wendepunkt der Kubakrise. Als mutmaßliche Hardliner aus den Reihen der sowjetischen Verbände auf Kuba ein weiteres Aufklärungsflugzeug Lockheed U-2 abschießen ließen, stieg der politische Druck auf den Kreml-Herrn Nikita Chruschtschow weiter. Doch obwohl sowjetische U-Boote mit Atomwaffen vor Kuba kreuzten, die Welt also so nahe am nuklearen Abgrund stand wie nie zuvor (und zumindest bis zum Ukraine-Krieg nie danach), ging es glimpflich aus.

FREDERICKSBURG, VA - OCTOBER 16: Dino Brugioni, a former senior official at the CIA's National Photographic Interpretation Center, was the CIA photo expert who first saw the missile plants on Cuba, and therefore launched the Cuban missile crisis 50 years ago this month. Brugioni is now 92 and living in Fredericksburg, Va. He is seen here in his home in Fredericksburg, Va., on October 16, 2012. (Photo by Eva Russo for The Washington Post via Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Dino Brugioni 2012 im Alter von 90 Jahren
Quelle: The Washington Post via Getty Im

Denn John F. Kennedy hatte die besseren Nerven: In Vier-Augen-Verhandlungen zwischen seinem Bruder Robert und dem sowjetischen Botschafter in Washington, Anatoli Drobynin, wurde vereinbart, dass die UdSSR ihre insgeheim stationierten Raketen von Kuba zurückziehen würde. Für die Öffentlichkeit war das eine klare Niederlage Chruschtschows.

Den sowjetischen Machthaber interessierte die Weltmeinung wenig. Doch musste er darauf achten, in der KPdSU nicht als Schwächling zu gelten. Damit Chruschtschow etwas bekam, was er im Politbüro als Erfolg verkaufen konnte, sagte Robert F. Kennedy zu, in der Türkei stationierte US-Raketen bis April 1963 abzuziehen. Ein geschicktes Manöver, denn damit taten die Kennedys etwas, das sie längst geplant hatten. Diese Raketen waren zwar erst 1961 aufgestellt worden, galten aber ein gutes Jahr später bereits als veraltet.

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Natürlich gab es auch im Westen Proteste gegen die Strategie Washingtons. Vermeintliche Pazifisten schlugen sich mit Slogans wie „Hände weg von Kuba“ auf die Seite der Sowjetunion. Doch am Erfolg der US-Regierung änderte das wenig: Die Kubakrise gilt berechtigterweise seit 1962 als Ereignis, bei dem sich der Westen gegen den Ostblock durchsetzte. Der Handel mit den US-Raketen in der Türkei rettete Chruschtschow nicht: Zwei Jahre nach der Beinahe-Eskalation in der Karibik stürzte ihn sein eigener Zögling Leonid Breschnew.

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