Nur nicht auffallen – das war die größte Hoffnung von Major Rudolf Anderson bei seinen Einsätzen. Denn der 35-jährige Major der US Air Force flog seit 1957 Fotoaufklärer des Typs Lockheed U-2 über Feindesland. Ein riskanter Job.
Bis zum 1. Mai 1960 hatten die Missionen als sicher gegolten, weil kein feindliches Jagdflugzeug und keine Boden-Luft-Rakete in die Höhe vorstoßen konnte, die eine U-2 erreichte: mehr als 20 Kilometer, in Notfällen sogar bis zu 27 Kilometer. Doch dann war der CIA-Pilot Francis Gary Power über Swerdlowsk in einer Höhe von 20.000 Metern von einer sowjetischen Flugabwehr-Rakete des Typs SA-2 (Nato-Name) getroffen worden. Er überlebte den Ausstieg mit dem Fallschirm und wurde festgenommen. Für die CIA ein Desaster.
Fortan gab es keine langwierigen U-2-Missionen mehr über der Sowjetunion. Sondern nur noch kurzzeitige Einflüge über nicht so wichtigen Einrichtungen, die der UdSSR-Luftverteidigung mutmaßlich nicht wertvoll genug erschienen, um dort einige der wenigen vorhandenen Hochleistungs-Abfangraketen zu stationieren. Und über Ländern, die mehr oder minder eindeutig zum Ostblock gehörten.
Zum Beispiel Kuba. Über der von Fidel Castro beherrschten Karibik-Insel in unmittelbarer Nähe Floridas waren U-2 seit Ende Oktober 1960 im Einsatz, nun allerdings in geheimem, aber offiziellem Auftrag der US Air Force. Zu deren U-2-Piloten gehörte auch Rudolf Anderson, der schließlich mit mehr als tausend Flugstunden auf der schlanken Maschinen mit der enormen Spannweite von 24,50 Meter bei einer Rumpflänge von 15,24 Meter der erfahrenste Air-Force-Pilot auf diesem Muster war.
Trotzdem war es alles andere als Routine, als Anderson am 27. Oktober 1962 seine U-2F mit der Seriennummer 56-6676 auf einem Flugfeld nahe Orlando in Florida startete. Sein Ziel war die Osthälfte von Kuba. Im Nordwesten der Insel, das hatten U-2-Flüge seit dem 14. Oktober ergeben, bauten sowjetische Techniker Startplätze für atomar bestückte Mittelstreckenrakten des Typs SS-4 (Nato-Name). Anderson sollte herausfinden, ob es auch im Osten Kubas solche Stellungen gab.
Doch zu dieser Zeit war bereits bekannt, dass die UdSSR mindestens 24 Stellungen von Flugabwehrrakten SA-2 auf Kuba installiert hatte, auch im Osten. Auf fast direktem Südkurs flog Anderson an diesem Samstag auf Kuba zu, passierte die Stadt Camagüey, schwenkte über Hafenstadt Manzanillo nach Osten, überflog die Stadt Guantanamo, machte östlich der kubanischen Hoheitsgewässer eine Kehre und flog zurück über die Stadt Banes. Weiter kam er nicht.
Denn plötzlich schossen zwei SA-2 auf ihn zu. Vermutlich, darauf deuten undeutliche Aufzeichnungen von Radarsignalen hin, versuchte Anderson noch, Höhe zu gewinnen und die Raketen auszumanövrieren – doch dafür genügte weder die Höchstgeschwindigkeit seines Aufklärers (gerade einmal 800 km/h gegenüber mehr als doppelt so viel bei den Jagdraketen) noch dessen Wendigkeit.
Eine der Raketen flog nahe genug an die Lockheed heran, damit ihr Radar-Abstandszünder den 190 Kilogramm schweren Splittergefechtskopf auslösen konnte. Laut späteren Untersuchungen zerriss ein Splitter den Druckanzug des Majors – in mehr als 20 Kilometern Höhe ein sicheres Todesurteil. Anderson war bereits tot, als er in den Trümmern seines Flugzeuges am Boden aufschlug.
Es war das Ende einer nicht glänzenden, aber soliden Offizierslaufbahn. 1927 geboren, war Andserson schon als Kind Pfadfinder gewesen. Direkt nach Kriegsende bauten die US-Streitkräfte Personal ab statt Nachwuchs aufzunehmen, also studierte er zunächst, machte einen Abschluss als Textilingenieur und arbeitete in diesem Beruf. Doch 1951, während des Koreakrieges, trat er in die Air Force ein und wurde Pilot. Seit Februar 1953 war er im Einsatz, und zwar bei Aufklärungseinsätzen mit Maschinen des Typs RF-86 Sabre. Er bewährte sich und erhielt zwei Auszeichnungen. 1957 wechselte er dann auf das Flugzeugmodell U-2.
Sein Tod hätte leicht die Kuba-Krise zum heißen Krieg eskalieren lassen können. Doch das Gegenteil trat ein, zum Glück für die Welt: Der von Moskau nicht autorisierte Einsatz von Raketen wurde zum Wendepunkt. Nikita Chruschtschow konnte sich, jedenfalls soweit bekannt, mit dem Hinweis auf diese Eigenmächtigkeit gegen die „Falken“-Partei in der sowjetischen Führung durchsetzen. Der atomare Schlagabtausch fiel aus.
Postum wurde Rudolf Anderson mit der höchsten Auszeichnung der Air Force geehrt. Seine sterblichen Überreste lieferte Kuba am 4. November 1962 aus, acht Tage nach dem Abschuss; sie wurden in seiner Heimatstadt Greenville beigesetzt. Dort erinnert ein Denkmal an den Aufklärungspiloten, hergestellt aus einer ausgemusterten F-86. Dass es keine U-2 ist, mag an der viel geringeren Stückzahl dieses Typs liegen. Oder am schlechten Leumund, den das Spionageflugzeug hat.
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