Ist ein Kohlendioxidmolekül erst einmal in der Atmosphäre, hat es dort ein langes Schweben vor sich. Hunderte Jahre verbleibt es wahrscheinlich, bevor es beispielsweise vom Blatt eines Baums aufgenommen und sein Kohlenstoff in Holz gebunden wird. Bis dahin heizt jedes Molekül CO₂ in der Luft den Planeten ein kleines bisschen auf. Deswegen ist es so wichtig, den weiteren Ausstoß drastisch zu mindern. Deswegen liegt es aber auch nahe, CO₂ wieder aus der Erdatmosphäre herauszunehmen (englisch remove) – und so rückgängig zu machen, was an anderer Stelle zu viel in die Luft geblasen wurde. 

Diese Idee heißt im Klimaschutzjargon Carbon Dioxide Removal (CDR). "Das ist keine reine Zukunftsstory", betont Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Geden entwickelt selbst keine CDR-Technik, sondern erforscht gewissermaßen die Kindheit und Jugend dieser Art von Klimaschutz. Er weiß, CDR ist längst Realität: als Bestandteil von Klimaszenarien, als Forschungsthema und auch als Business. Anbieter verkaufen bereits Zertifikate für aus der Luft geholtes Kohlendioxid an andere Firmen. Diese rechnen die Zertifikate gegen ihren eigenen Ausstoß, um klimaneutral zu werden. Man könnte sagen, CDR ist der Zwilling der Emissionsminderung, ein Klimaschutz der anderen Art.  

Am Dienstagabend wurde in London die wissenschaftliche Studie State of Carbon Dioxide Removal vorgestellt. Darin machen Geden und rund 50 weitere Fachleute eine Art Kassensturz: Wie steht es weltweit um die Kohlendioxidentnahme? Anfang 2023 hatten sie das zum ersten Mal gemacht. Im Interview mit ZEIT ONLINE hatte Gedens' Co-Autor Jan Minx vom Berliner Mercator Institut damals über CDR-Methoden gesagt: "Wir brauchen sie dringend, um die Pariser Klimaziele zu erreichen – zusätzlich zu den Emissionsreduktionen." Anderthalb Jahre später folgt heute nun ein erstes Update.  

In 98 Prozent der analysierten Klimaszenarien kam Aufforstung vor.

Gut zwei Gigatonnen CO₂ werden demnach schon heute der Luft entnommen. Giga steht für neun Nullen und klingt nach viel, aber zwei Milliarden sind wenig in Relation zu den rund 37 Milliarden Tonnen CO₂ die weltweit im Jahr ausgestoßen werden. Außerdem wird für den Löwenanteil dieser Entnahme einfach Mutter Natur eingespannt: Es dominieren schlichte Aufforstungsprojekte. Dabei arbeiten Forschende an anderen, neuartigen Methoden. Die reichen von beschleunigter Gesteinsverwitterung (Basaltmehl auf Äckern unterpflügen) bis zur Speicherung des Kohlenstoffs aus schnell wachsenden Energiepflanzen (Bioenergy with Carbon Capture and Storage, BECCS). Und natürlich gibt es da den Popstar unter den neuartigen Methoden: Bei Direct Air Capture (DAC) wird CO₂ mit riesigen Ventilator-haften Anlagen aus der Luft gewaschen. Die Zürcher Firma Climeworks hat im Mai ihre bisher größte DAC-Anlage auf Island eingeweiht, Mammoth. Der Name klingt gewaltig. Doch bislang liegt der Anteil neuartiger Methoden an der CO₂ -Entnahme bei nur einem Promille.

Immerhin, Geden und seine Co-Autoren analysieren, dass die neuen Methoden trotz ihrer quantitativen Bedeutungslosigkeit erhebliche Investitionen erhalten – wer weiß, vielleicht befeuert das künftige Durchbrüche, vielleicht ist es aber auch nur ein Hype. Womöglich spricht über den Popstar von heute in ein paar Jahren niemand mehr. Bei der Forschungsförderung wiederum haben konventionelle Methoden die Nase vorn: 50 Projektförderungen wurden im Jahr 2000 weltweit vergeben, 2022 waren es fast 1.200. Und: "Die wissenschaftliche Erkenntnis – gemessen an der Zahl publizierter Fachartikel – hat noch schneller zugenommen als Forschungsförderung und Investitionen." 

100 Mal mehr kostet es momentan, mit neuen CDR-Methoden eine Tonne CO₂ aus der Luft zu waschen, als die Emission einer Tonne zu vermeiden.

CDR ist schon allein deshalb nötig, weil sich nicht jede Emission komplett vermeiden lässt – die Staaten sich aber gleichzeitig bereits Zeitpunkte vorgenommen haben, bis zu denen sie klimaneutral sein wollen. Weil aber wohl keine Volkswirtschaft komplett auf null Emissionen runterkommen wird, streben sie stattdessen an, nicht mehr Treibhausgase auszustoßen, als sie anderweitig einfangen. Auch in den Szenarien des Weltklimarats ist CDR dafür fest eingeplant. Der neue Report rechnet nun vor: Um die Pariser Klimaziele zu erreichen, müssten die heutigen rund zwei Gigatonnen Entnahme bis zum Jahr 2050 auf 7 bis 9 Gigatonnen pro Jahr anwachsen. (Die genaue Größe hängt davon ab, welchen weiteren Klimaschutz man unterstellt.) Was die Staaten bislang an CDR zugesagt haben, genügt dafür allerdings nicht. Geden und seine Co-Autoren sprechen vom "CDR gap", also von der Kohlendioxid-Entnahme-Lücke. (Diese hatte dasselbe Team vorab bereits in der Fachzeitschrift Nature Climate Change angeprangert.) 

27 Staaten haben neben der EU bisher Vorschläge zur Ausweitung bis zum Jahr 2050 gemacht.

Auch Deutschland hat sich vorgenommen, klimaneutral zu werden, und zwar bis zum Jahr 2045. Wie? "Schwer komplett zu vermeiden, erscheinen beispielsweise Emissionen durch Düngemitteleinsatz in der Landwirtschaft oder bei der Abfallverbrennung", sagt die Geografin Julia Pongratz, die an der LMU München lehrt und für das deutsche Forschungskonsortium CDRterra spricht. "Eine 'Nettonull' der Emissionen erreichen wir dann nur, wenn wir in gleicher Menge CO₂ aus der Atmosphäre entnehmen." Vor ein paar Tagen hatte CDRterra dazu eine nationale Strategie von der Bundesregierung angemahnt. "Dies ist nicht zuletzt wichtig, weil beim Einsatz von CO₂-Entnahme Ziel- und Verteilungskonflikte zu erwarten sind", sagt Pongratz. So beanspruchen etwa Aufforstung und die Renaturierung von Mooren Platz, der dann nicht mehr anderweitig verwendet werden kann. Neue Techniken wie DAC hingegen bedürfen Unmengen grünen Stroms, der bis heute Mangelware ist.  

99,9 Prozent der CO₂-Menge, die heute schon entnommen wird (rund 2,2 Gigatonnen pro Jahr) entfallen auf konventionelle Methoden wie Aufforstung.

Kontroversen sind bei CDR geradezu programmiert. In der Fachzeitschrift Earth's Future veröffentlichten mehr als zwei Dutzend Forschende Anfang Mai einen Vergleich der CDR-Optionen für Deutschland. Ihr Ergebnis liest sich wie ein Gegensatzpaar: "Ökosystem-basierte CDR, die niedrigschwellig umsetzbar wäre, hat in Deutschland ein eher kleines Potenzial für die CO₂-Entnahme", schreiben die Fachleute. "Optionen mit hohem Potenzial hingegen stehen vor großen bürokratischen, technologischen und gesellschaftlichen Hürden." 

Konflikt birgt bereits die grundlegende Frage, welche CO₂-Emissionen denn genau per CDR neutralisiert werden sollen. Der Weltklimarat spricht von schwer vermeidbaren ("hard to abate") Emissionen. Aber was heißt das? Darf die Schwerindustrie weiter CO₂ emittieren, darf die Petroindustrie CDR zum Greenwashing nutzen? Soll unvermeidliches Methan und Lachgas aus der Landwirtschaft mit Negativemissionen mittels CDR ausgeglichen werden? Oder einfach alles, was gut bezahlt wird? Und wie viel ist überhaupt möglich? Schon jetzt zeigt sich, wie unterschiedlich das von Land zu Land eingeschätzt wird. Oliver Geden sagt: "Die Restemissionen werden in den USA höher angesetzt als in Deutschland. Und in Saudi-Arabien sind sie wiederum höher als in den USA."