Im Inneren des Kanzlers führen eine selbst verordnete Besonnenheit und ein naturgegebenes, nicht gerade geringes Selbstbewusstsein einen ständigen Kampf miteinander, wer von beiden nun den nächsten Auftritt bestimmen darf. Vielleicht liegt es daran, dass Scholz an diesem Morgen mit einem frisch gebackenen sozialdemokratischen Wahlsieger, dem neuen britischen Premier Keir Starmer, frühstücken durfte. Vielleicht an dem strahlenden Sonnenschein über Washington. Vielleicht aber auch daran, dass er sich vor die klassizistische Kulisse des Capitols, dem Sitz des US-Kongresses, stellen darf, um sich über den bisherigen Verlauf des großen Jubiläumsgipfels der Nato zu äußern: An diesem Morgen siegt jedenfalls das Selbstbewusstsein. Ziemlich deutlich sogar.  

Zuerst lobt Scholz Deutschland (und damit auch sich selbst) dafür, zu den ersten Ländern gehört zu haben, die ein bilaterales Sicherheitsabkommen mit der Ukraine abschlossen. Dann dafür, dass es andere angeregt, ja davon überzeugt habe, jetzt weitere, hocheffiziente Luftabwehrsysteme vom Typ Patriot an die Ukraine zu liefern. "Ohne dass Deutschland mit der Lieferung von drei Patriots vorangegangen wäre, würde dieser Schritt jetzt nicht erfolgen", sagt der Kanzler. Und schließlich verweist er darauf, dass Deutschland das größte Nato-Mitgliedsland in Europa sei, woraus eine "ganz besondere Verantwortung" erwachse, um aus dieser Erkenntnis ein Versprechen abzuleiten: "Und das kann ich hier ganz klar sagen. Wir werden, ich werde, dieser Verantwortung gerecht werden."

Da formuliert der deutsche Kanzler nichts weniger als einen Führungsanspruch in der westlichen Allianz. Hatten wir auch noch nicht.

Auf die USA ist kein Verlass mehr

Den 75. Geburtstag der Nato, der in diesen Tagen in Washington gefeiert wird, überschattet die Frage, ob ein nochmals sechs Jahre Älterer, Joe Biden, körperlich und geistig dazu in der Lage ist, die USA – und damit auch die Nato – vier weitere Jahre zu führen. Schaltete man hier die TV-Nachrichtensender ein, so beschränkt sich die Gipfelberichterstattung auf Fragen, die nach Medikamentenausgabe im Seniorenheim klingen: Wie spricht Biden, wie geht er, sieht er erschöpft aus, bewegen sich seine Gesichtszüge, wenn er die Gipfelteilnehmer begrüßt, überlebt er (politisch) die nächste Pressekonferenz? Und mit jeder dieser Fragen wächst die Sorge, dass Donald Trump der US-Präsidentschaft wieder ein Stück näherkommt. Und ein Präsident Trump, darüber sind sich beim Gipfel alle einig, wird die Nato als geopolitischen Akteur ähnlich ruppig zur Seite schieben wollen, wie er das 2017 beim Brüsseler Gipfel mit dem damaligen montenegrinischen Premierminister Duško Marković getan hat. Platz da, jetzt komme ich!

Um die Nato Trump-sicher zu machen, müssen nicht nur, wie nun in Washington ziemlich spektakulär geschehen, Fakten geschaffen werden, die auch ein Präsident Trump nicht mehr rückgängig machen kann. Dass die USA erstmalig seit dem Ende des Kalten Krieges nun konventionelle Langstreckenraketen vom Typ Tomahawk in Deutschland stationieren werden, die Ziele tief im russischen Kernland treffen können, war die Überraschung des Gipfels. Und ist die größte Aufrüstung seit dem Nato-Doppelbeschluss Anfang der Achtzigerjahre. Später, nach 2026, sollen sogenannte Hyperschallwaffen, besonders schnelle Raketen, dazu kommen. Um die Nato vor einem US-Präsidenten zu schützen, der nichts mit ihr anfangen kann oder will, müssen aber auch die Lasten neu verteilt, die Aufgaben stärker aufgesplittet werden – und die Starken und Großen mehr Verantwortung übernehmen. Zuvorderst Deutschland. Aber wird es dem so gerecht, wie dies Scholz in Washington für Land und Kanzler in Anspruch nimmt?

Auf den ersten Blick sieht es danach aus: Deutschland hat in der Tat eine Vorreiterrolle bei der Lieferung von Patriot-Luftabwehrsystemen gespielt, gehört zu den Ersten, die ein bilaterales Sicherheitsabkommen mit der Ukraine abgeschlossen haben und ist, überhaupt, der nach den USA zweitgrößte Unterstützer des von russischen Truppen überfallenen Landes – allerdings nur in absoluten Zahlen, gemessen an der Wirtschaftskraft liegt es nur im Mittelfeld.

Mit der Verpflichtung, eine komplette Brigade – also rund 5.000 Soldatinnen und Soldaten – nach Litauen zu entsenden, um die Ostflanke der Nato besser zu schützen, betritt die Bundeswehr sicherheitspolitisches Neuland. Noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik wurden deutsche Soldaten mit ihren Familien dauerhaft in einem anderen Land stationiert. Ein neues Marinehauptquartier zur Verteidigung der Ostsee wird zudem in Rostock entstehen, mit Oberkommandierenden aus Deutschland und Polen im Wechsel – auch dies ein Beleg der größeren Verantwortung.

Neuer deutscher Ehrgeiz

Weiter ließe sich anführen: die 35.000 Soldatinnen und Soldaten, die in höchster Einsatzbereitschaft der Nato zur Verfügung stehen, die rotierenden Einsätze deutscher Kräfte in Polen und der Slowakei, die Teilnahme der Luftwaffe an der Übung "Arctic Defender" in Alaska, dem größten Manöver, an dem sie je beteiligt war, oder auch der noch neuen, aber bereits regelmäßigen Präsenz der Marine im Indopazifik. Auch die Tatsache, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius hinter wie vor den Kulissen auf eine stärkere Interoperabilität, also Austauschbarkeit, von Waffensystemen innerhalb der Nato-Staaten drängt, auf mehr gemeinsame Beschaffung und mehr Kooperation bei der Entwicklung von Waffen, ist Ausdruck eines neuen Ehrgeizes. Ebenso wie die Ankündigung des Verteidigungsministers, eine Drohneninitiative starten zu wollen, um die Ukraine besser als bisher mit diesen immer wichtigeren Waffen zu versorgen – und zwar aus deutscher Produktion.

Als Hauptbeleg für die Bereitschaft, mehr Verantwortung übernehmen zu wollen, dient dem Kanzler stets die Versicherung, dass Deutschland seine Verpflichtung, zwei Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben, dauerhaft erfüllen werde – auch wenn das 100-Milliarden-Sondervermögen 2028 aufgebraucht sein wird. "Der Verteidigungsetat wird dann rund 80 Milliarden Euro betragen – das ist fast eine Verdopplung innerhalb von zehn Jahren", beteuert Scholz in Washington. Aber genau hier beginnen die Zweifel.

In US-Kreisen und auch unter den osteuropäischen Nato-Mitgliedern wird das Zwei-Prozent-Ziel längst als hinfällig betrachtet. Wolle man der Bedrohung des auf Kriegswirtschaft umgestellten Russland wirkungsvoll begegnen, so heißt es vielerorts während des Nato-Gipfels, so müsse man noch einmal deutlich drauflegen und rund drei Prozent des BIP in die Verteidigung investieren.  Ähnliche Einschätzungen sind aus dem deutschen Verteidigungsministerium zu hören. Die angestrebte "Kriegstüchtigkeit" der Truppe sei im bisher geplanten Finanzrahmen nicht zu erreichen. Dass der Kanzler den Wunsch von Pistorius, den Etat im kommenden Jahr um 6,5 Milliarden Euro aufzustocken, ungehört verhallen ließ, sehen führende Generäle als klaren Widerspruch zum verkündeten Führungsanspruch.

Auch im inneren Gefüge der Nato hegen manche Zweifel am entschiedenen Willen, ein mögliches Machtvakuum wirklich füllen zu wollen. Von den drei "M"s sprach man Nato-intern vor dem Gipfel mit Blick auf die Ukraine: money, membership, mission. Bei den beiden Letztgenannten steht Deutschland auf der Bremse, bei der Frage der Mitgliedschaft sogar sehr entschieden. Dem Drängen der Osteuropäer, die Ukraine so schnell wie möglich in die Nato aufzunehmen, hatten die deutsche sowie die US-Regierung schon lange vor dem Gipfel so entschieden widerstanden, dass die Frage in Washington keine Rolle mehr spielte. Beide wollen auch verhindern, dass man in der Abschlusserklärung über die Wortwahl des letzten Gipfeltreffens in Vilnius hinausging, als man eine Beitrittsperspektive so wolkig wie möglich hielt. In Washington kämpfen die Osteuropäer nun dafür, in der Schlusserklärung den Weg der Ukraine in die Nato für "irreversible", also unumkehrbar, zu erklären – und setzten sich gegen deutschen Widerstand durch. Der Kanzler wurde hier mehr geführt, als dass er selbst führte.

Deutschland und seine roten Linien

Beim dritten "M", mission, geht es darum, dass die Organisation der Unterstützung und der Ausbildung ukrainischer Soldaten künftig nicht mehr bei den USA, sondern bei der Nato selbst liegen wird. Dagegen hat die deutsche Regierung nichts, wohl aber gegen den Begriff mission. Das klinge so, ließ das Kanzleramt wissen, als würde die Nato "Soldaten von A nach B schicken wollen" (Klartext: von Nato-Territorium in die Ukraine) – und genau das sei ja nicht geplant. In der Nato schüttelten nicht wenige den Kopf. Mit solchem "Kleinmut" könne man schlecht Führungsansprüche stellen, hieß es da. Und ob 35.000 Bundeswehrsoldaten in höchster Einsatzbereitschaft ausreichen, um den neuen Nato-Strukturen zu entsprechen, wird auch bezweifelt. 

Und noch etwas löst auf unterschiedlichen Nato-Ebenen Befremden aus: dass der Kanzler gern und oft rote Linien zieht und erklärt, was Deutschland alles nicht macht: keinen Taurus liefern, keine Ausbildung auf ukrainischem Boden, keine Bundeswehrsoldaten schicken. "Das Geschwätz von den roten Linien macht uns hier alle verrückt", schimpft ein ranghoher Nato-Mitarbeiter und erklärt dann, deutlich ruhiger: "Nicht das, was wir tun, provoziert Russland, sondern das, was wir nicht tun."

In diesem Sinne ist die in Washington verkündete Stationierung von Mittel- und Langstreckenraketen in Deutschland kein Grund zur Beunruhigung, sondern ein Zeichen der Stärke, das Putin versteht. Ob das in der Kanzlerpartei, der SPD, alle so sehen, ist mehr als fraglich. Scholz' Führungskompetenz ist nun in den eigenen Reihen gefragt. Dumm nur, dass die in der SPD, diesem Verteidigungsbündnis überkommener Gewissheiten, deutlich schwieriger durchzusetzen ist als in der Nato.

Es wäre also wünschenswert, wenn bei den inneren Kämpfen des Kanzlers neben der Besonnenheit und dem Selbstbewusstsein noch ein Dritter mitfightet – und sich durchsetzt: die Entschiedenheit.