Dieser Artikel stammt aus unserem Ressort X.

ZEIT ONLINE: Wie geht es Ihnen, Frau Neubauer?   

Luisa Neubauer: Es könnte schockieren, aber mir geht es ganz gut.   

ZEIT ONLINE: Wen könnte das denn schockieren?   

Neubauer: Ich erlebe oft eine Art Erwartungshaltung an meine Gefühlswelt. Und die ist: Ich muss mindestens unzufrieden, wenn nicht wütend sein. Gestresst, erschöpft und überspannt. Aber immer zuversichtlich. Seitdem ich Aktivistin bin, ist das ein Thema. 

ZEIT ONLINE: Sie haben heute bekannt gegeben, dass Sie die Bundesregierung verklagen. Wieso tun sie das?   

Neubauer: Der Staat hat eine Schutzpflicht den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber, sprich, sie vor der Klimakatastrophe zu sichern. Das Bundesverfassungsgericht hat 2021 festgestellt: Diese Schutzpflicht gilt für alle Generationen gleichermaßen. Man darf die Gesellschaft von heute nicht der von morgen vorziehen. Das ignoriert die Bundesregierung immer wieder und tut so, als könnte sie selbst die einfachsten Maßnahmen wie ein Tempolimit endlos vor sich herschieben, und die Klimagefahren so kalkuliert immer weiter verschärfen. Im nächsten Schritt zwingt diese Art der Politik die Gesellschaft in fünf oder zehn Jahren dazu, auf einen Schlag ganz viele Klimamaßnahmen umzusetzen, um Klimaziele noch einhalten zu können. In dem Sinne verklagen wir die Bundesregierung darauf, dass sie Klimaschutzmaßnahmen, die heute möglich und notwendig wären, auch heute umsetzt. Es geht uns vor allem um die Lage im Verkehrsministerium und die Abschwächung des Klimaschutzgesetzes, in das die Bundesregierung sich in unseren Augen verfassungswidrige Schlupflöcher eingebaut hat.    

ZEIT ONLINE: Wen verklagen Sie genau?   

Neubauer: Formal verklagen wir, Klägerinnen und Kläger, mit Fridays for Future, Umweltverbänden wie Greenpeace und Germanwatch, vertreten von einer Reihe von Juristen, die Bundesregierung, vertreten durch die Bundesregierung und den Bundestag. Daran haben wir monatelang gearbeitet. 

"Es könnte schockieren, aber mir geht es ganz gut." © Aliona Kardash für ZEIT ONLINE

ZEIT ONLINE: Manche werden Ihnen Symbolik vorwerfen.   

Neubauer: Wer glaubt, eine Beschwerde vorm Bundesverfassungsgericht sei Symbolik, den würde ich nach seinem Demokratieverständnis fragen. Diesmal ist es eine Sammelklage. Es klagen auch Menschen mit, die auf dem Dorf leben, pendeln und keine Busanbindung haben. Die wissen, wenn der Bundesverkehrsminister heute weiterhin Maßnahmen verschleppt, dann wird man, um deutsche oder auch europäische Emissionsgrenzwerte noch einhalten zu können, irgendwann ganz viel gleichzeitig machen müssen, von denen dann Menschen vor Ort wiederum zu sehr betroffen sein werden. Es geht also auch um den Schutz vor einer Unverhältnismäßigkeit. Und das Bundesverfassungsgericht kann man nicht lange ignorieren. Spätestens bis zur nächsten Klage oder bis zum nächsten Beschluss. Und genau das machen wir jetzt.   

ZEIT ONLINE: Aus den Wahlergebnissen der Europawahl könnte man schließen, dass sich gar nicht mehr so viele Leute fürs Klima interessieren.  

Neubauer: Das höre ich seit vier Jahren. Aus den Wahlergebnissen lese ich vor allem: Die Leute sind hochgradig besorgt, gerade junge Leute. Ich fände es komplett absurd, von Menschen zu erwarten, nur eine Sorge zu haben. Ich sorge mich ja selbst um eine Reihe verschiedener Themen, und ich bin Klimaaktivistin. Ich halte es allerdings für dramatisch, dass der politische Diskurs im Wahlkampf den Anschein erweckt hat, das "Klimathema" könne man abschalten, wie ein schlechter Film. Menschen stehen nicht morgens auf und sagen: Ich habe kein anderes Thema in der Welt. Warum auch?    

ZEIT ONLINE: In einer Umfrage gaben über 60 Prozent der jungen Menschen an, dass Inflation, Kriege, Wohnraum und die Spaltung der Gesellschaft ihre größten Sorgen seien. Klimawandel folgt auf Platz fünf. Vor einigen Jahren führte der Klimawandel diese Liste an.    

Neubauer: Es ist doch offensichtlich: Die Welt liegt vor uns in Scherben, in vielen Hinsichten. Und wie groß sind die Sorgenkapazitäten, die wir haben? Womit können wir uns jeden Tag beschäftigen, wenn ich nicht weiß, wie ich meine Miete bezahle? Oder ich mich frage, wie es um den Krieg in Europa steht. All das, während die Hälfte meiner Freundinnen Depressionen entwickelt haben. Da steckt doch ein großer politischer Fehler drin, aus solchen Rankings den Vorwurf zu konstruieren, die Menschen interessiere das Klima nicht genug. Die richtige Schlussfolgerung wäre: Was zum Henker tun wir jungen Leuten an, die gar nicht mehr wissen, wie sie einen weiteren Funken Sorgen in ihr Leben einbauen sollen? 

ZEIT ONLINE: Hat es Sie überrascht, dass viele junge Menschen rechts und konservativ gewählt haben?  

Neubauer: Nein. Die große Mehrheit der jungen Menschen hat demokratisch gewählt, und gleichzeitig haben wir schon vor Monaten vor einer rechten Radikalisierung gewarnt. Wir hatten eine eigene Kampagne gestartet, #ReclaimTikTok, um dagegen anzukommen, wir haben über 100 Millionen Views generiert. Das alles, wohl wissend, dass unsere jungen Aktivist:innen aus dem Kinderzimmer heraus nicht das wettmachen können, was eine AfD-Maschinerie seit Jahren leistet.     

ZEIT ONLINE: Eine Zeit lang dachte man doch aber schon, die Jugend sei grün, und Sie das Gesicht dieser Generation.   

Neubauer: Vor allem medial wollte man das so sehen. Es gibt eine junge Generation, die wie jede andere Generation in gewisser Weise gespalten ist. Früher war sie das eher zwischen FDP und Grünen, heute ist das zwischen rechten und konservativen, und grün-progressiven auf der anderen Seite. Junge Leute einen viele Sorgen und Enttäuschungen, aber die Schlüsse, die daraus gezogen werden, unterscheiden sich. 

ZEIT ONLINE: Unter den 16- bis 24-Jährigen haben die Grünen 23 Prozentpunkte verloren. Das muss Sie doch schockiert haben.  

Neubauer: Ich würde wirklich dafür werben, die 16- bis 24-Jährigen selbst dazu zu befragen, statt endlos über sie zu sprechen. Zur Wahl stehen alle schockiert vor "den jungen Leuten", um sie dann bis zur nächsten Wahl wieder zu ignorieren, ebenso wie ihre Themen Einsamkeit, Coronafolgen, Krieg, Klima oder Lehrkräftemangel. Und bei der nächsten Wahl fragt man dann wieder: Mensch, die jungen Menschen, die sind irgendwie unzufrieden, wie kann das sein? Es gibt einen Teil der Jungen, der sagt: Ich bin unzufrieden mit der Regierung, also kämpfe ich dafür, dass es besser wird. Und es gibt einen anderen Teil, der sagt: Ich drehe mich jetzt weg oder ich wende mich Rechtsradikalen zu. Oder probiere, die Politik in meinem Leben zu ignorieren. Dieser letzte Teil wächst offensichtlich. Da ist meine Frage: Wie hat die Politik denn vor, junge Leute als gleichberechtigte Generation ernst zu nehmen? 

ZEIT ONLINE: Aber wieso wählen denn nun immer weniger Junge grün?  

Neubauer: Die 16- bis 24-Jährigen sind eine Gruppe, die nicht in den Neunzigern und Nullerjahren gegen die AKWs auf der Straße stand und sich überhaupt nicht verpflichtet fühlt, die Grünen zu wählen, aber die ökologisch wählen wollen und so in großem Maße zu Volt herübergegangen sind, oder zu anderen Kleinstparteien.