Die SPD kann ihr Glück noch immer nicht recht fassen. Fast hat man das Gefühl, der gegenwärtige Höhenflug verschlage ihr die Sprache, weil er ihr selbst ein Rätsel ist. Demütig stellt sich der überaus selbstbewusste Spitzenkandidat vor Kameras und Mikrofone und sagt leise, wie "berührt" und "bewegt" er von der Zustimmung der Deutschen sei. Olaf Scholz weiß, wie schnell es wieder bergab gehen kann. Nur nicht zu früh triumphieren.

Denn auch wenn seine Partei in den Umfragen inzwischen fünf Prozentpunkte vor der Union liegt und neun Punkte vor den Grünen, bleibt eine Jamaikakoalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP mindestens so wahrscheinlich wie eine SPD-geführte Regierung. Und dann wäre Armin Laschet der nächste Bundeskanzler.

Und doch. Der Trend verfestigt sich, Woche für Woche. Die SPD, eben noch wie eingemauert bei 14 Prozent, steht nun bei 25 Prozent und wie es aussieht, kann es noch weiter nach oben gehen. Die Frage stellt sich: Warum hat das niemand kommen sehen? Warum haben vor allem die professionellen Beobachter der Politik, die Journalisten, mit ihren Erwartungen so danebengelegen? Warum setzten so viele von ihnen vor Kurzem noch auf Schwarz-Grün, eine Variante, die derzeit je nach Umfrage bei 36 Prozent liegt? Oder auf Grün-Schwarz und eine Kanzlerin Baerbock?

Vielleicht, weil der Wunsch der Vater des Gedankens war? Weil man ein einziges Thema, den Klimawandel, absolut gesetzt hat? Das ist zwar das drängendste Problem unserer Zeit, aber es ist nicht das einzige. Es scheint sogar, als bewege viele Wählerinnen und Wähler anderes mehr. Nun, da der Wahlkampf wirklich begonnen hat, wird über Steuern und Staatsverschuldung gestritten, über Pflegekosten und Mindestlohn. Auf die Frage, welches Thema für ihre Wahlentscheidung am wichtigsten sei, antworten laut ZDF-Politbarometer 39 Prozent der Befragten: der Klimaschutz. Aber 51 Prozent sagen: die soziale Gerechtigkeit. Ein sehr sozialdemokratisches Anliegen.

Vielleicht liegt hier die erste Erklärung. Es geht gar nicht so sehr um frisierte Lebensläufe oder ein Lachen im falschen Moment. Also nicht um die Schwäche der Kandidaten von CDU und Grünen, die gemeinhin als Hauptgrund für die derzeitige Stärke der SPD genannt wird. Stattdessen könnte es tatsächlich um das Programmatische gehen, auch um Erfahrung und Kompetenz. Hinzu dürfte kommen: Nach 16 Jahren Angela Merkel gibt es zwar eine sanfte Wechselstimmung, aber gewiss keinen Wunsch nach einer abrupten Wende. Die zur Stabilität neigenden Deutschen hätten gern einen Neubeginn mit Kontinuität. Dieses leicht paradoxe Ideal verkörpert offenbar Olaf Scholz

War diese naheliegende Erklärung vielen Kommentatoren deshalb zu langweilig, weil ihnen Scholz und seine Partei zu langweilig waren? Zu spießig, irgendwie 20. oder gleich 19. Jahrhundert? Im Hype um die für möglich gehaltene erste grüne Kanzlerschaft reichten meist ein paar spöttische Nebenbemerkungen, dann hatte sich das Thema SPD erledigt.

Zu Zeiten des Kalten Krieges und des atomaren Wettrüstens hieß es oft: Ohne Frieden ist alles nichts. Was ja stimmte. Was aber sehr viele Bürger nicht davon abhielt, für die Gegner einseitiger Abrüstung zu stimmen. Jetzt heißt es: Ohne den Klimaschutz ist alles nichts. Was ebenso stimmt. Dennoch scheinen viel weniger Wählerinnen und Wähler für die Grünen stimmen zu wollen als noch im Frühsommer erwartet – obwohl danach in Griechenland und der Türkei die Wälder brannten und die Flut im Westen Deutschlands Häuser und Menschen hinwegriss. Der Klimawandel ist da und trotzdem haben viele Menschen noch immer ganz andere Sorgen. Die sind oft ganz profaner Natur und verlangen nach eher praktischen Antworten. Das kann man langweilig finden. Unvernünftig ist es nicht.

Wenn es für die Sozialdemokraten seit Jahren vor allem Häme gab, manchmal nur noch Mitleid, dann hatten die sich das natürlich auch selbst zuzuschreiben. Als sie Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu ihren Vorsitzenden wählten, konnte man ja tatsächlich das Ende einer stolzen Partei nahen sehen.

Es kam anders. Es ging nicht zu Ende mit der SPD, es geht wieder aufwärts. Nun findet es plötzlich die halbe Welt vollkommen plausibel, dass Olaf Scholz demnächst ins Kanzleramt einziehen könnte. Eben noch hätte diese Vorstellung allenthalben Heiterkeit ausgelöst. Was also ist da geschehen? Man möchte es am liebsten jetzt verstehen. Nicht erst am Abend des 26. September, wenn sowieso alle schlauer sind.