Natürlich kann man den 9. Juni als Schwarzen Sonntag Europas in den Kalender eintragen, als den Anfang vom Ende. Frankreich bebt, Österreich färbt sich FPÖ-blau, und Westdeutschland wird mit seinen niedrigen AfD-Werten zur Galapagos-Insel: eine politische Ausnahmeerscheinung, mit deren Kostbarkeiten aber niemand in der Nachbarschaft mehr irgendetwas anfangen kann. Wie unendlich weit es von Münster (vier Prozent AfD) nach Meißen mit seinen fast 40 Prozent Rechtspopulismus scheint!

Man kann die Ergebnisse aber auch als Galgenfrist verbuchen. Vielleicht haben die Parteien der Mitte ein letztes Mal die Chance bekommen, mit einer immer noch soliden Mehrheit das Thema weiterzuverfolgen, das so viele Europäer bedrängt: Migration. Es ist kein Zufall, dass in dieser Frage die rechts-mittige EVP im europäischen Durchschnitt das größte Vertrauen genießt. Ihre Migrationspolitik ist vermutlich genauso ambivalent, wie die meisten Wähler fühlen: Zwischen Mitgefühl und Angst (und auch Wut, Entfremdung oder Abwehr), Ideologie und Pragmatismus geht es immer hin und her.

Kein Wunder, dass der bulgarische Politologe Ivan Krastev die Flüchtlingskrise von 2015 einmal "Europas 9/11" genannt hat: den Moment, der auch die geistige Landschaft des Kontinents stark umgepflügt hat. Nicht nur Geflüchtete sind gewandert, sondern auch Argumente, politische Identitäten und eben Wählerstimmen. Während nach dem Fall der Mauer der Liberalismus das einzige Spiel in der Stadt zu sein schien, sahen manche spätestens 2015 das Zeitalter des Ressentiments heraufziehen. Mehr als 2.000 Kilometer neuer Grenzzäune sind nach 1989 in Europa aufgeschossen.

Aber was heißt Ressentiment? In Neckarbischofsheim, dem Geburtsort von Rouven L., dem Polizisten, der vor anderthalb Wochen von einem Geflüchteten aus Afghanistan erstochen wurde, landete die AfD erstmalig auf dem zweiten Platz. Geschichten wie die des vermutlichen Täters, Suleiman A., hat man schon zu oft gehört: Sein Asylgesuch war 2014 abgelehnt worden, er blieb aber trotzdem, heiratete, bekam Kinder, und radikalisierte sich offenbar unbemerkt. Er hätte gar nicht hier sein dürfen, der Staat hat seinen Bürger Rouven L. hängen lassen – das war der Tenor vieler Posts unter der Nachricht vom getöteten Polizisten.

Dass Europa nicht nur mehr nach rechts gerückt ist, sondern auch weniger grün wird – diese beiden Nachrichten gehören womöglich zusammen wie zwei kommunizierende Röhren. Die Behauptung, man könne zwar das Weltklima auf zwei Grad begrenzen – aber nicht kontrollieren, wer nach Deutschland kommt, passt für zu viele einfach nicht mehr zusammen.

Großen Schrecken hat die Entdeckung ausgelöst, dass so viele jüngere Leute AfD gewählt haben, die beim letzten Mal so eindeutig grün oder liberal votierten. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, früher selbst bei den Grünen, hat dafür eine einfache Erklärung. Im Leben jüngerer Leute mache sich die Migration – häufig jüngerer, alleinreisender Männer – viel mehr bemerkbar als im Leben von Boomern, die zum allerkleinsten Teil AfD wählen. Wer sich in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf Straßen, Schulhöfen und in Clubs aufhält, dessen Leben hat sich verändert, durch höhere Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit.