Bis sich Bundespräsident Alexander Van der Bellen in eine Debatte einschaltet, muss schon etwas passieren in Österreich. Üblicherweise lässt der 80-Jährige mit großväterlicher Gelassenheit die Tagespolitik unkommentiert. Aber diese Geschichte, die seit einer Woche den österreichischen EU-Wahlkampf dominiert, ist alles andere als üblich, selbst in der so skandalerprobten Wiener Republik. 

Es geht schon los damit, dass man nicht so recht sagen kann, worin der Skandal genau besteht. Um eine politische Auseinandersetzung geht es dabei längst nicht mehr, sondern um Flurfunk, private Affären, vermeintliche Vorwürfe, aus denen keiner schlau wird, und ein undurchsichtiges Netz aus Intrigen. Im Zentrum steht dabei Lena Schilling, die 23-jährige Spitzenkandidatin der Grünen. Sie soll, so hat es die – sehr renommierte – Tageszeitung Der Standard vergangene Woche berichtet, ein "problematisches Verhältnis zur Wahrheit" haben. Und damit anderen Menschen private und berufliche Probleme bereitet haben. 

Belegt wurde die Einschätzung mit anonymen Zitaten und vielen Vorwürfen, die im Ungefähren blieben. Das größte "Beweisstück" des Standard: eine Unterlassungserklärung, die Schilling unterzeichnet hat. Sie verpflichtet sich darin, nicht zu behaupten, eine ihrer ehemals besten Freundinnen sei von deren Ehemann verprügelt worden und habe eine Fehlgeburt erlitten. Seitdem sickern immer weitere Vorhaltungen durch, Klagen stehen im Raum.

Van der Bellen, früher selbst Parteichef der Grünen, ordnet die ganze Causa in die Kategorie Jugendsünde ein. "Wer macht als junger Mensch keine Fehler", fragte er rhetorisch. Er jedenfalls könne darauf verzichten, das Privatleben von Politikern in einen Wahlkampf hineinzuziehen. Eine Intervention, die zu spät kommen dürfte: Denn für die Grünen dürfte es unmöglich werden, das Privatleben ihrer Spitzenkandidatin wieder aus dem Wahlkampf herauszubekommen.  

Erhebliches Charakterdefizit oder "kein relevantes Fehlverhalten"?

Dabei war Lena Schilling eigentlich die ideale Kandidatin für diesen EU-Wahlkampf. Sie war der Gegenpol zur Altherrenriege, die von den anderen Parteien aufgestellt wurde: eine junge Frau, bekannt geworden als Klimaaktivistin, eloquent und kämpferisch. In ihren ersten Interviews agierte sie noch etwas patschert, wie man in Österreich sagt, etwa als sie in einer Satiresendung nicht wusste, dass Norwegen kein Mitglied der Europäischen Union ist. Aber sie sorgte für Publicity.

Auf die Aufmerksamkeit, die der Standard mit seiner Recherche dann vor einer Woche erregte, hätte Schilling sicher lieber verzichtet. Zumal der Text in aller Breite seine Hauptthese untermauerte: Hier hat eine EU-Spitzenkandidatin ein erhebliches Charakterdefizit. Da sind die Gerüchte über Affären von Journalisten, die Schilling verbreitet haben soll, da ist die "verbrannte Erde", die sie in der Klimabewegung, in der sie als Frontfrau aktiv war, hinterlassen habe. Und da ist der Journalist, über den sie fälschlicherweise behauptet habe, er habe sie belästigt. Der Mann ließ die Personalabteilung seines Unternehmens seine Chats mit Schilling lesen. Es konnte, laut Standard, "kein relevantes Fehlverhalten" festgestellt werden.