Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende Nr. 20/2022. Die aktuelle Ausgabe lesen Sie hier.

Weit im Westen Berlins, neben dem Funkturm, einer Autowaschanlage und dem lärmenden Kaiserdamm, liegt der über die Jahre etwas angestaubte Berliner Zentrale Omnibusbahnhof (ZOB). Hier, auf den Bussteigen, zwischen Berufspendlern und Touristen, warten täglich Ukrainerinnen und ihre Kinder auf die Busse, die am ZOB nach Osten, in Richtung Ukraine aufbrechen. Meist sind sie schon Tage vor Abfahrt ausgebucht.

Der Krieg in der Ukraine ist nicht vorbei, noch immer drohen überall im Land Raketenangriffe. Und trotzdem kehren täglich etwa 20.000 Menschen aus Polen in die Ukraine zurück, unter ihnen viele, die zuvor nach Deutschland geflüchtet sind.

Wir haben mit mehreren der Frauen gesprochen, die sich am vergangenen Donnerstag auf den Weg gemacht haben. Sie alle wissen, dass ihre Reise riskant ist, doch fast alle verneinen auch, wenn man sie fragt, ob sie Angst vor der Rückkehr haben. Wochen- und monatelang lebten sie, die an diesem Tag wieder zurück in die Ukraine reisen, in Deutschland aus ihren Koffern. Ihre Familien sind durch den Krieg voneinander getrennt, viele können nicht aufhören, die Nachrichten zu lesen, die seit Wochen in Echtzeit aus den Kriegsgruppen auf Viber, Telegram, und Facebook auf sie einprasseln. Sie zeigen Videos aus ihren Heimatstädten, manchmal sogar von den eigenen Straßen.    

"Keine der Personen, mit denen unser Team gesprochen hat, reist zurück, weil sie denkt, es sei nicht mehr so schlimm vor Ort oder der Krieg sei vorbei", sagt Susanne Schattschneider, die als Einsatzleiterin für die Malteser am ZOB Geflüchtete betreut. Die Mehrheit kehre zurück, um nach dem eigenen Zuhause zu sehen oder um wieder bei den Angehörigen zu sein. "Einige sagen auch, dass sie keine Wohnung oder Arbeit gefunden haben, oder nicht so schnell, wie sie es bräuchten, und dass sie mit dem Umfang an Geldleistungen, die sie bekommen, nicht zurande kommen."

Drei der Frauen, mit denen wir gesprochen haben, erklärten sich bereit, uns nach ihrer Ankunft in der Ukraine aus ihrer Heimat zu berichten. Anna Gradowska, Anastassija Dawydenko und Nastja Kalashniuk reisten zurück nach Dnipro, Wyschnewe bei Kiew und in das schwer umkämpfte Charkiw. Und obgleich sie nach ihrer Rückkehr wichtigere Dinge zu erledigen hatten, als mit deutschen Reporterinnen zu sprechen, hielten sie ihr Versprechen. Hier sind ihre Eindrücke – vor ihrer Abfahrt und nach ihrer Ankunft. 

ZOB, Berlin

Anna Gradowska am ZOB © Bastian Thiery für ZEIT ONLINE

Anna Gradowska (45) wartet an Bussteig 27 auf den Bus nach Warschau, von wo aus sie weiter nach Kiew reisen wird. Neben ihr steht der Einkaufswagen, auf dem sie ihre Rucksäcke geladen hat. Gradowska wirkt verhältnismäßig entspannt, mit ruhiger Stimme spricht sie von ihrer Heimatstadt Dnipro und sie lacht, wenn man sie auf ihr zersprungenes iPad anspricht. Über den Krieg redet sie erst, wenn man sie fragt.

Gemeinsam mit ihrer Freundin Olga Shumejko und deren 13-jähriger Tochter Wlada verließ Gradowska ihre Heimatstadt Dnipro am 10. März mit dem Zug. "Wir hatten Angst vor den Bomben." Dnipro liegt am Fluss Dnepr, die Stadt ist strategisch bedeutsam. Erst vor einer Woche kam es laut ukrainischen Behörden zu einem Raketenangriff auf eine Bahnlinie im Zentrum der Großstadt. In Deutschland kamen die drei zuerst in einem Aufnahmezentrum unter, dann lebten sie gemeinsam in einer Wohnung, die ihnen jemand zur Verfügung gestellt hatte.

Der Bus nach Kiew hat 90 Minuten Verspätung, aber das sind Peanuts im Vergleich zu dem, was Gradowska vor sich hat. Die Fahrt soll 28 Stunden dauern, sie wird Gradowska durch die Großstädte Lublin und Zhytomyr führen, bis sie am Kiewer Busbahnhof ankommen wird. Dann wird sie einen Weg finden müssen, in ihre Heimatstadt Dnipro im Südosten des Landes zu kommen. Mit dem Bus wären es noch mal acht Stunden. Zugfahrten sind schneller, aber wegen der russischen Angriffe auch unsicherer. Wann Gradowska zu Hause ankommen wird, kann sie nur schätzen.

Graffiti an einem Bauzaun am ZOB © Bastian Thiery für ZEIT ONLINE

Sie zieht ihr Handy hervor und zeigt ein Foto ihres Bruders. Auf seinem Profilbild posiert er mit Waffe und in Tarnuniform. "Er kämpft jetzt bei Charkiw", sagt Gradowska. Ob sie keine Angst um ihn habe? Sie lächelt nachsichtig, so als sei die Frage unsinnig, weil es keine andere Antwort als "Nein" geben könne. "Er wird leben", antwortet sie. "Ich muss das glauben, genauso wie ich daran glauben muss, dass die Ukraine gewinnen wird."

In Dnipro wohnt Gradowska in einer Wohnung mit einer Freundin, ihrem zweiten Bruder, der ausgemustert wurde, und mit vier Katzen. Sie zieht wieder das iPad hervor, auf dem Bildschirm räkeln sich die Katzen auf einer Couch. "Auf mich wartet mein Haus, meine Stadt", sagt Gradowska, "Zu Hause ist es immer noch am schönsten." Und auf dieses Zuhause, hofft sie, werden keine Bomben mehr fallen.

Dnipro, via Viber

Am Samstagnachmittag, zwei Tage nach ihrem Aufbruch in Berlin, meldet sich Gradowska aus Dnipro. Sie sei gut angekommen, schreibt sie. Ihre Sätze klingen optimistisch. "Als ich nach Hause kam, fühlte sich mein Herz leichter an. Ich habe es hier sehr vermisst." 

Anna Gradowska nach ihrer Ankunft in Dnipro © Privat

Die Preise seien um die Hälfte gestiegen. Trotzdem lebe die Stadt noch immer ihr eigenes Leben. "Es ist ruhig in unserer Stadt. Frühling, alles blüht. Es ist sonnig. Es ist schwer zu erkennen, dass im Land Krieg herrscht. Aus der Ferne ist der Krieg beängstigender, hier kann ich mich ihm verschließen. Ich habe hier einen Job. Wir werden weiterleben. Die größte Freude wird für mich die Nachricht sein, dass der Krieg vorbei ist. Für heute ist dies das Wichtigste, und dass alle Verwandten leben. Alles andere ist zweitrangig."

Laderaum des Bus nach Kiew © Bastian Thiery für ZEIT ONLINE

Vermisst sie irgendetwas an Deutschland?

"Gast sein ist gut, zu Hause sein ist besser", schreibt sie. "In Deutschland war alles sehr gut, aber es fühlte sich an wie ein Traum. Ich mag Berlin, aber ich wollte dort Touristin sein, kein Flüchtling. Wenn man von so viel Schönem umgeben ist, aber es zu Hause Ärger gibt, dann kann uns das Schöne nicht gefallen."