Als ich ein Interview mit der Soziologin Hannelore Bublitz über verborgene Codes zur Sicherung von Machtpositionen im akademischen Betrieb lese, fahren mir ihre Worte direkt unter die Haut. Bublitz hat es als Arbeiterkind bis zur Universitätsprofessorin geschafft und diesen schwierigen Aufstieg in einer nicht gerade durchlässigen Gesellschaft thematisiert. Ich reagiere körperlich, weil sie an eigene Erfahrungen rühren, für die ich lange keine Sprache fand. Auch ich komme von unten, Erinnerungen steigen hoch: Die Entscheidung für ein Studium wird in der konservativen Umgebung Österreichs der späten Siebzigerjahre von meinen Eltern nicht unterstützt. Ich gelte in der gesamten Familie als Nichtsnutz, eine, die sich vor Arbeit drückt, während andere Kinder funktionieren.

Der Druck der Umgebung ist groß. Mit zwölf schon arbeiten meine Cousins den Sommer über auf dem Tabakfeld, pflücken Blätter oder fädeln diese an langen Schnüren auf, um sie in der Scheune zum Trocknen aufzuhängen. Die Pflanzen färben ihnen die Finger braun, sie tragen den süßlichen Geruch den Sommer über an ihren Körpern. Aber sie verdienen Geld. Sobald Verwandte und Nachbarn von ihrem arbeitenden Nachwuchs berichten, lassen sie dabei eine Zufriedenheit spüren, die einen Vorwurf beinhaltet. An mich. Meine Eltern sehnen sich danach, auch von meiner Tüchtigkeit zu berichten. Doch Lesen und Lernen sind wenig wert. Erst Ferienjobs bieten Gelegenheit dazu. Ich verbringe Sommer in der Möbelabteilung eines Kaufhauses, im Büro einer Bank.

Während des Studiums bin ich Verkäuferin und tippe für einen Rechtsanwalt Protokolle vom Band. In der Schweiz verdiene ich im Sommer genügend Geld für ein ganzes Semester. Vater ist zufrieden. Ich bin Kellnerin, verkleidet mit weißer Schürze vorm Bauch lasse ich mir von alten Herren Zigarrenqualm ins Gesicht blasen. Für ein Engagement zur Fasnacht in St. Gallen sind Kostüme angesagt. Das Motto lautet Harem. Im Dessous-Laden werden uns spitzenverzierte Höschen und -BHs aus Polyester verpasst, Strumpfhalter, Netzstrümpfe. Harem bedeutet hier: leicht bekleidet, durchsichtig, verführerisch. Über der Reizwäsche soll ich ein hellblaues Babydoll tragen. Am ersten Tag kommen Männer uns junge Frauen besichtigen. Den Reisepass hat der Chef allen bei der Ankunft abgenommen und im Safe verwahrt. Für einen Rückzieher ist es zu spät. Wir brauchen das Geld. Auch als meine Haut sich gegen die Kombination von Polyester, verrauchter Gaststube, zu wenig frischer Luft und Tageslicht zu wehren anfängt, erst juckt, dann Quaddeln ausbildet, kann ich mir nicht leisten aufzuhören. Sogar als eine Runde Feuerwehrleute mir zum Spaß das babyblaue Hemdchen vom Leib reißt, um meinen Busen zu sehen. Ich rege mich auf, die Chefin beschwichtigt, schenkt mir Alkohol ein, denn wichtig sei vor allem, dass die Männer viel konsumieren. Dafür soll ich mehr tun, als ich bislang bereit war. Als eines Abends ein angetrunkener Gast mit mir Rock 'n' Roll tanzen will, gebe ich nach, er hat Probleme mit seinem Gleichgewicht, sodass er mich quer über die Tische schleudert. Ich lande mit blauen Flecken am dreckigen Boden und beschließe, zu fliehen. Doch der Chef gibt meinen Pass nicht heraus. Ich streite stundenlang mit ihm, er droht mit guten Verbindungen zur Polizei. In den Morgenstunden übergibt er mir das Dokument, nicht aber das Geld, das ich bis dahin verdiente.

Solche Fehlschläge verschweige ich den Eltern, denn die Arbeit und die Arbeitgeber haben in ihren Augen immer recht. Die prekären Verhältnisse, in denen ich aufwachse, können mir nichts beibringen darüber, wie ich mich in einer Welt, in der ich in Zukunft hoffentlich bessere Jobs finden werde, verhalten soll. Die Eltern kennen nichts anderes als Basteln, Kochen, Tippen, Nähen, Schweißen, Gartenarbeiten. Ich muss aus dem Nichts schöpfen, bleibe oft darin stecken oder falle, wenn mir einmal etwas gelingt, nach kurzer Zeit wieder ins Nichts zurück. Wer bereits im Umkreis des Akademischen aufgewachsen ist, hat einen Vorsprung, ist bereits als Kind am richtigen Ort, während die von weither Kommenden diesen ständig verfehlen, weil sie die Regeln nicht kennen. Meine Abweichung von der Norm fällt auch auf meine Eltern zurück. Das Nicht-Arbeiten. Das Nicht-Hausbauen. Das Nicht-Zufriedensein, mit dem, in das man hineingeboren wird. Das Nicht-Annehmen der weiblichen Rolle. Die Hybris, die ihnen deshalb vorgeworfen wird. Ihr Versagen als Eltern. Mein Umgang damit ist Rebellion. Bewusst das Gegenteil dessen tun, was erlaubt ist oder erwartet wird, was dem Ideal anderer entspricht. Ich ziehe mit Kiffern, Kriminellen, Verwahrlosten herum. Die Hilfe des Vaters besteht darin, jedes Jahr in der Personalabteilung seiner Arbeitsstelle, eine Verlängerung des Kindergelds sowie eine Gehaltsbestätigung für den Antrag zur Studienbeihilfe zu verlangen. Eine Demütigung für den Fleißigen, schon seit seinem 14. Lebensjahr Arbeitenden und Geldverdienenden, einzugestehen, dass seine Tochter mit über 20 noch nicht für sich selbst sorgen will.

Bublitz schreibt in ihrem Buch Die verborgenen Codes der Erben, dass die "Rekrutierung sozialer Eliten und die Markierung sozialer Positionen keineswegs durch rationale Auswahl", sondern durch "soziale Magie" erfolge, die von den Uneingeweihten nicht durchschaut werden könne. Sobald ich in die Nähe derartiger Auswahlprozesse gelange, versage ich. An der Universität stellt sich heraus, dass ich keine der Erwählten bin. Ich kann nicht segeln, spiele kein Tennis, kein Golf, kein Musikinstrument. Mir fehlt die soziale Ähnlichkeit mit meinen Kommilitonen. Ich bin haltlos, lerne rasch, oft aber das Falsche. Mein erstes Zimmer erhalte ich durch die Vermittlung einer kollegialen Tochter aus höherem Haus, deren Familie diese Wohnung in Wien besitzt. Dieses frühere Dienstbotenzimmer war ohne Heizung, da die Angestellte dort ohnehin nur schlief und bis dahin in warmen herrschaftlichen Räumen beschäftigt war. Zu Anlass meines Einzugs lädt mich die Vermieterin zum Mittagessen. Suppe und Marillenknödel. Ihre Kleinen werden von einem Mädchen vom Land betreut. Ich bin nervös. Passe nicht an diesen mit Silberbesteck und Stoffservietten gedeckten Tisch, nehme die falsche Gabel, steche in die gekochte Frucht, die Saft über das weiße Tischtuch verspritzt, die Brösel sind nicht wie bei Mutter zuckrig und karamellisiert, sondern schmecken trocken und brotig, halten sich nicht auf meinem Teller, verbreiten sich über dessen Rand. Meine fehlenden Manieren liegen in dieser bürgerlichen Wohnung brach. Ich dachte, allein durch die Großstadt, das Studium, meine Belesenheit wäre ich in der besseren Gesellschaft angekommen. Dabei bin ich bloß ein Landei in Hippiekleidung, das die Grundregeln guten Benehmens nicht kennt.

Bildung ist ein Spiel, das im Gewand universeller Werte auftritt, heißt es in Pierre Bourdieus Studie Die feinen Unterschiede. Mir fehlt die Basis, die Vorbildung des Gymnasiums, das ich nicht besuchte, Anspielungen verstehe ich nicht. Das Wissen, das ich von meinen Vorfahren geerbt habe, ist nutzlos in dieser Welt, in die ich aufgebrochen bin. Mir fehlt nicht nur die finanzielle Unterstützung, sondern auch psychisches Kapital: Selbstbewusstsein, die Gewissheit, dass sich Bildung und Leistung einmal auszahlen. Mir fehlt die mentale Unterstützung einer Familie, die an mich glaubt, mich lobt, mir in schwierigen Zeiten versichert, du schaffst das. Ich laviere zwischen Weitermachen oder Aufgeben, Widerstand oder Scheitern. In der Folge befreunde ich mich mit dem Kindermädchen der Vermieterin. Auch sie fühlt sich fremd. Von einem Bauernhof stammend, ist sie das erste Mal in der Großstadt. An ihren freien Tagen schlendern wir durch die Straßen, gönnen uns Fritten und Cola. In die bürgerliche Wohnung werde ich nie mehr eingeladen. In Wien regieren damals Barbourjacken und Lodenmäntel, die klackernden Metallplättchen an den handgenähten Schuhen der Männer, die Tweedjacketts. Hier näseln die, die zum geheimen Kreis der besseren Bezirke gehören oder zumindest so tun. Die Mädchen tragen Kilts, Wollpullover, weiße Blusen, Loafers, die Uniform der Konservativen. Viele von ihnen treiben sich im Umkreis der Studentenorganisation der Freiheitlichen Partei herum. Dieses Spiel mit der Auserwähltheit seit Generationen liegt wie ein undurchdringlicher Schleier über der Innenstadt.

"In symbolischen Kämpfen um soziale Positionen wird ein kulturelles Erbe übertragen, das fundamentale soziale Ungleichheiten bestätigt", schreibt Bublitz. Eine aktuelle Statistik zur sozialen Mobilität in Österreich zeigt, dass Kinder aus bildungsfernem Elternhaus nur zu sechs Prozent einen akademischen Abschluss erreichen. Für Frauen ist der Prozentsatz geringer. Frauen mit abgeschlossenem Doktorratsstudium gibt es noch weniger. Ich gehöre also zu den verbleibenden 0,1 Prozent.

Der Abschluss ermöglicht mir zwar kein sicheres Einkommen, aber wechselnde Lehraufträge und Gastprofessuren. Ich veröffentliche Bücher, verfüge statt ökonomischem über kulturelles Kapital, ich arbeite und lebe in verschiedenen Ländern, ziehe nach Berlin, wo meine Kinder aufwachsen. Solange die Hauptstadt auch für Geringverdiener leistbar war, kann ich mich der Illusion hingeben, teilzuhaben. Als die Mieten steigen, teilt sich der Kreis, in dem ich mich bewege, in diejenigen, die auch über ökonomisches Kapital verfügen, und die anderen. Ich bin keine Erbin, Berlin nun zu teuer. So werde ich zurückgeworfen auf das Thema Klasse.

Als ich kürzlich in Wien einen Literaturpreis erhielt, stellte sich beim anschließenden Empfang eine Dame vor, ihre Familie stamme aus derselben Gegend. Sofort erkenne ich ihren Nachnamen. Die Vermieterin erinnert sich nicht an mich. Durch die Auszeichnung bin ich ihr für ein paar Sekunden gleichgestellt. Von den Häppchen, die serviert werden, bekomme ich nichts ab, da sich die vornehmen Gäste gierig darauf stürzen, sie von den Tabletts reißen und in sich stopfen, ohne Benimm. Die, die den Habitus der herrschenden Klasse verinnerlicht haben, wissen intuitiv, wann es in Ordnung ist, bestimmte Regeln zu brechen.