Spanien gegen Deutschland. Das Spiel der EM. Am Ende, das wissen wir, wurde es ein bitterer Abend. Aber wie schmerzhaft war es währenddessen? Denn enttäuscht werden kann man ja nur, wenn man vorher Hoffnung hatte. "It's the hope that kills you", lautet eine alte Fußballregel. Also: Wie hat Deutschland dieses entscheidende, enttäuschende Spiel erlebt? Zum Glück haben unvorhergesehene Umstände (und schlechte Planung) das Kulturressort von ZEIT ONLINE an symbolträchtige Orte verschlagen.

Wir haben geguckt: in einer Strandbar auf Mallorca, unter Deutschen in einem spanischen Restaurant in Hamburg, in Berlin mit sieben Kindern und den dazugehörigen Eltern, im Bundeskanzleramt mit Claudia Roth und, wie soll es anders sein, in einem Zug der Deutschen Bahn. Über die wurde ja bei dieser EM fast mehr geredet als über Fußball.

0' ICE 683, Hamburg – München: Der Fußballabend beginnt mit der Frage: Bleibt das WLAN stabil?

1' Cala Ratjada, Mallorca: In der Bar Chocolat an der Ostküste von Mallorca geht die deutsche Nationalhymne zu Ende, und die ganze Strandpromenade jubelt. Wir sind auf Empfehlung einer Gruppe von Deutschland-Fans hier, die den Flug nach Mallorca am Vortag damit verbrachten, "Pyyyyyrotechnik!" zu skandieren. Der Ball rollt.

2' Hamburg: Im spanisch-portugiesischen Restaurant Casa del Sabor sitzen die Leute dicht gedrängt. Schauen aber eher auf ihre pimientos de padrón als auf den Fernsehbildschirm. Die Gäste sind zum größten Teil Deutsche. Es ist wenig Leidenschaft zu spüren. Lediglich der Kellner, der gerade ein Tablett Sangria-Gläser zwischen den Tischen balanciert, hat sich eine spanische Flagge über die Schultern gebunden. "Hallo, españa", sagt ein deutscher Fan. Beide umarmen sich kurz.

3' ICE: Es stellt sich heraus: Das WLAN ist leider nicht stabil.

4' Berlin, Bundeskanzleramt: Die Staatsministerin für Kultur und Medien sitzt in der ersten Reihe vor einem von zwei Flachbildschirmen, auf denen Fußball läuft. Am Nachmittag hat Claudia Roth hier mit geladenen Kulturleuten, Politikerinnen und Medienvertretern "25 + 1 Jahre Bundeskulturpolitik" gefeiert. Ursprünglich sollte im vergangenen November ein Vierteljahrhundert Existenz des Kulturstaatsministeriums begangen werden, dann kam der 7. Oktober 2023, und jegliche Feier verbat sich. Monate später eine neue Ansetzung: 5. Juli 2024, 18 Uhr. Doch ein paar Tage vor dem Termin fiel dem Hause Roth, das im Kanzleramt als Untermieter wohnt, dann doch auf, dass das zeitlich mit dem Anstoß eines gewissen EM-Viertelfinales kollidieren würde. Also wurde die Feier auf 15 Uhr vorverlegt. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach ein kurzes Grußwort, in dem fast so viel Fußball wie Kultur vorkam. Gleich danach aber, während der Festrede des Schriftstellers Daniel Kehlmann, stand Scholz auf, um im Garten des Kanzleramts seinen Kanzlerhubschrauber zu besteigen. Wie sich herausstellt: um rechtzeitig zum Anstoß in Stuttgart zu sein. Der Kanzler guckt im Stadion, nicht wie die im Kanzleramt verbliebenen Kulturleute im Fernsehen. Das muss das Kanzlerprivileg sein.

6' ICE: Das Mobilfunknetz im Zug: leider auch nicht stabil.

9' Berlin-Friedrichshagen: Zusammengekommen sind hier: sieben Kinder, sechs Erwachsene aus verschiedenen Lebensabschnitten und Stadien der Zurechnungsfähigkeit. Das Wohnzimmer leuchtet trikot-pink. Dreimal Kroos, einmal Wirtz, einmal Gündoğan. Das einzige trikotlose Kind soll sofort in ein solches gezwängt werden. Verunsichert sucht der Sohn den Blick des Vaters. Er weiß: "Eigentlich tragen wir so was nicht."

12' ICE: Das leidlich funktionierende Smartphone verrät: Pedri musste nach hartem Einsteigen von Toni Kroos vom Platz.

Die Playmobil-Nationalmannschaft in Berlin-Friedrichshagen stimmt ab: Viertelfinale weitergucken oder doch lieber "Bluey" schauen? © Daniel Gerhardt

15' Kanzleramt: David Raum kommt im spanischen Strafraum fast zum ersten Mal durch. Nun klatscht die versammelte Kulturgemeinde zum ersten Mal fast richtig laut. Michel Friedman (dritte Reihe, ganz links) schaut skeptisch.

18' Hamburg: Im Restaurant kann man den Kommentator kaum noch hören. Portugal-Fans, deren Mannschaft um 21 Uhr im Volksparkstadion gegen Frankreich spielt, haben die Straße erobert und grölen umher. Mit rauchender Pyrotechnik in der Hand ziehen sie Richtung Stellingen. Der arme Kellner mit der Spanien-Flagge hat kaum zwei Sekunden Ruhe, um auf den Bildschirm zu schauen. "Wir wollen was trinken", ruft der deutsche Fan, er trägt Käppi und kommt eigentlich aus Bosnien. Die erste Sangria ist fast leer.

21' Cala Ratjada: Ein Kopfball Richtung Tor von Havertz gibt den Deutschen ihre erste richtige Chance. Die zu früh hochgerissenen Arme in der Bar auf Mallorca bleiben einfach oben, um die nächste Runde zu bestellen. 

25' ICE: Immer noch keine gute Verbindung im Zug. Der Passagier auf dem Vordersitz spielt Pokémon auf dem Gameboy. Sein Karnimani vermöbelt gerade ein Rattfratz. So muss es ausgesehen haben, als Kroos vor ein paar Minuten den armen Pedri wegräumte. Alle Kämpfe hier verlaufen lautlos. Wir sind im Ruheabteil.

27 ' Berlin-Friedrichshagen: Das Kind trägt jetzt doch Pink mit Bundesadler. Das Spiel gibt erst mal wenig her, den größten Aufreger markiert eine zu spät gekommene Familie, die beim Späti "versehentlich" zum alkoholfreien Radler gegriffen hat. Ein Vater erzählt, dass er um 21.30 Uhr noch zum Tennis verabredet ist.

32' Cala Ratjada: Deutschland mit schönem Passspiel nach vorn, doch die Flanke von Kimmich nach innen wird vom spanischen Torwart abgefangen. Unmut beim mallorquinischen Public Viewing. "Diese verdammten Bayern!", flucht ein Mann in pinkem Deutschland-Trikot und trinkt wütend einen Schluck von seinem Bier. "Denen geht es nur darum, ob die Frisur gut sitzt", pflichtet seine blondierte Frau ihm bei.

33' ICE: Der Audiostream der Sportschau läuft einigermaßen! Endlich ist auch der ICE 683 im Spiel.

35' Kanzleramt: Fast eine Chance für Havertz! Die große, gut besetzte Treppe, auf der drei Stunden zuvor die Geladenen andächtig sitzend einer kämpferischen Rede von Claudia Roth gelauscht hatten (Kultur hält die Gesellschaft zusammen und ist wichtig für die Demokratie), klingt nun wie die Nordtribüne, die sie rein geografisch auch ist. Rooaarrrrr!

37' Hamburg: Im Restaurant werden jetzt Familienfotos gemacht, Geburtstag des Sohnemanns. Niemand scheint sich hier für Fußball zu interessieren. 

Halbzeit: Im Garten des Kanzleramts, wo vorhin noch der Kanzlerhubschrauber geparkt war, ist jetzt typische Sommerfestdeko aufgebaut, weißes Loungemobiliar und Stehtische mit melancholisch aussehendem Kleinlavendel darauf. Der Raucherbereich ist ja eigentlich immer der Ort, an dem am meisten Leute stehen (rauchend oder nicht), und an dem am meisten geredet wird. Im Kanzleramtsgarten stehen im Raucherbereich in der Halbzeitpause aber lediglich drei Kulturjournalistinnen und reden – gut vernehmbar – über Kulturjournalismus. Es ist also fast wie beim Spiel Deutschland gegen Spanien: Viel Trubel, aber wenig passiert. 

Selbiges gilt für den ICE. Dafür jedoch in Hamburg plötzlich Bewegung. Die Hälfte der Gäste bezahlt und geht. Sogar der Kellner hat seine Flagge abgelegt. Nur die Portugiesen feiern wild. Unter Berliner Kindern unterdessen die Frage aller Fragen: "Können wir Bluey gucken?"