Viadrina ist ein sympathischer Name: "Die an der Oder gelegene." Als ich 1997 in Frankfurt (Oder) mit dem Studium begann, lockte er mich ebenso wie das Europa, das verheißungsvoll im Universitätsnamen mitschwang. Ich war so euphorisch wie unvorbereitet. Ich befand mich in Aufbruchsstimmung und war bereit, am Experiment Kulturwissenschaften teilzunehmen. Doch an den Eingängen zu den Studierendenunterkünften skandierten Neonazis: "Ausländer raus!" Schnell kam ich in Erklärungsnöte, vor mir selbst und vor anderen. Warum studierte ich hier?

Ich wusste damals noch nicht, unter welchen Bedingungen meine Eltern 1981 die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hatten, und warum es ihnen wichtig gewesen war, die polnische zu behalten. Ich war deutsch und polnisch, ja klar, irgendwie. Doch erst an der Universität stellte sich mir die Frage, was das genau bedeutete, und inwiefern es wichtig war. Auch als ich schon an der Viadrina unterrichtete, blieb das Gefühl, mich vor meinen Studierenden und mir selbst nicht ausreichend erklären und mitteilen zu können.

2004 war Polen der EU beigetreten, 2007 dem Schengener Abkommen. Ich erinnere mich an das Feiern auf der Oderbrücke, an das Gefühl, dass eine neue Zeit anbrechen könnte. Es war klar, dass die Grenze nicht gleich überall nachhaltig abgebaut werden konnte. In den Köpfen vieler Menschen spielte sie weiterhin eine Rolle. Aber mehr als der Angst, sie könne unerwartet zurückkehren, wollte ich meiner Zuversicht trauen. Einfach war das nicht. Denn das Unbehagen, dass sich die Kontrollen bloß ostwärts verlagerten und dort, an der neuen EU-Außengrenze, umso verschärfter durchgeführt werden könnten, war stets präsent.

Damals ahnte ich noch nicht, dass bereits 2015 wieder Maßnahmen an der Oder eingeführt würden, um flüchtende Menschen zu kontrollieren. Dass nur wenige Jahre später temporäre Grenzschließungen und zunehmende Kontrollen den Alltag während der Pandemie bestimmen sollten. Dass grenzpolizeiliche Maßnahmen durchgeführt würden, die die Schleuserkriminalität eindämmen sollen. Immer wieder kehre ich an die Oder zurück – an diesen Grenzfluss, der auch etwas Entgrenzendes hat.

1981 habe ich die Oder erstmals überquert, auf dem Rücksitz des Familienautos. Die Grenze war nicht hermetisch dicht, sodass mein Vater sie schon zuvor zu Arbeitsaufenthalten in Deutschland passieren konnte. Mit einem soliden, im Westen erworbenen Gebrauchtwagen konnte er zurück nach Polen einreisen. Meine Mutter wollte das Land bis zuletzt nicht verlassen. Doch die politische und wirtschaftliche Krise spitzte sich zu und sollte nur wenige Monate später zum Kriegszustand in Polen führen. Also packten meine Eltern eine Reisetasche und eine Campingausrüstung. Ihr Visum galt für einen Familienurlaub in Frankreich.

Wir kamen in einer mittelgroßen Stadt am nördlichen Rand des Ruhrgebiets an. Mehr als einige Ausflüge in der Region waren uns damals nicht möglich. 1985 fand sie dann statt: meine erste Reise nach Polen. Ich besuchte die Großeltern und den Rest der Familie. Der eiserne Vorhang hing noch, aber es fuhr ein TUI-Ferienexpress. Er rollte mich im Schlafabteil durch die Nacht, in der ich kurz vor den Grenzkontrollen das nervöse Rascheln von Dokumenten auf den Plätzen der Erwachsenen hörte, dann das Kommandieren von Schäferhunden und ihren einschüchternden Einsatz. Wobei mich etwas anderes geweckt hatte. Durch die Zuglautsprecher erklang sanft aufsteigend das Klavierstück Ballade pour Adeline. Rückblickend wirkt es wie eine Regieanweisung für einen absurden Film. Doch irgendwie hielt die kuriose Klangkulisse mich damals in der Balance – und mit Richard Clayderman im Schlafabteil fuhr ich in dieser Nacht direkt in meinen achten Geburtstag hinein.

Auf dem Autorücksitz dann jeden Sommer die immer gleiche Strecke bis in den Nordosten Polens, manchmal auch zu Ostern oder zu Weihnachten. Ich erinnere mich genau an die Strapazen der Anreisen. An den Grenzübergängen (BRD – DDR und DDR – PL) hieß es anstehen, manchmal bis zu acht Stunden lang. Dann, wieder viele Stunden später, als der Proviant längst aufgebraucht war, jubelten meine Eltern, wenn sie die Weichsel sahen: dzieci, juz Wisła! – Kinder, die Weichsel!

Den plötzlich aufblitzenden Nationalstolz durchschaute ich schon allein an der Art, wie sie den Flussnamen intonierten. Mir dämmerte, dass die Weichsel, dieser Hauptstadtfluss, immer ein Stück mehr ihrer als meiner sein würde, dass wir zu viert nie ganz in der Zuflucht eines gemeinsamen Zuhauses ankommen würden. Vor der massiven Weichsel-Flussbrücke waren meine Eltern fast zu Hause, gleich am Ziel, ja doch: Hier kamen sie her.

Das unglaubliche Gefälle zwischen Ost und West

Vielleicht zieht es mich deshalb zur Oder hin. Mit der Oder im Blick erinnere ich mich daran, wie mir das Familienauto als eine Art Herkunftsort erschien. Das Familienleben als Zustand kontinuierlicher Übergänge. Ich erinnere mich an den rot leuchtenden Kaufmannsladen, auf den ich an meinem ersten "Kindergartentag" zuging. Er befand sich im Aufnahmelager in Unna-Massen, in dem wir 1981 einige Tage verbrachten, und er ist meine früheste bildhafte Erinnerung. Ich glaube, dass ich in dem Moment, als ich mit ihm spielte, das damals unglaubliche Gefälle zwischen Ost und West erahnte, vielleicht sogar die Bedeutung von Stempeln und Unterschriften, die es in so einem Aufnahmelager zu erlangen galt.

Als Studentin fuhr ich noch einmal dorthin; ich wollte meine eigene Migration rekonstruieren, Begriffe für sie finden. In verstaubten Ordnern konnte ich verschiedene Dokumente einsehen, mich aber letztlich nicht dazu durchringen, meine Kindheitserfahrungen anhand von Kategorien wie Asylbewerberin, Ausländerin oder Spätaussiedlerin zu vereindeutigen.

Als ich nach Berlin zog, waren ohnehin ganz andere Begriffe en vogue. Ich traf Frauen, die in den 1980er-Jahren ebenfalls als Kinder von Polen nach Deutschland gekommen waren. Einige von ihnen hatten wie ich an der Oder studiert, einige waren in andere polnische Städte zum Studieren auf Zeit gegangen, andere hatten ganz woanders studiert und in der Ferne gemerkt, dass ihnen die Verbindung zu Polen fehlte. Und so schlossen wir uns zur Initiative "Zwischen den Polen" zusammen. Immer häufiger trafen wir uns, bis wir plötzlich auf der Welle des Postmigrantischen mitsegelten. Wir feierten die Berührungspunkte der Communitys in verschiedenen Kiezen Berlins, organisierten Kulturfestivals. Seit unserem ersten Workshop sind fast 18 Jahre vergangen. Wir haben eigene Kinder bekommen, stehen mittlerweile in familienähnlichen Beziehungen zueinander. Und wir haben mit der Uneindeutigkeit, die unsere Verbindungen ausmacht, gut leben gelernt.