Das Bundesinnenministerium zählte zwischen dem siebten Oktober vorigen Jahres und Mitte Mai 1.590 propalästinensische Veranstaltungen in Deutschland, 113 davon galten als illegal. Beinahe alle dieser Demonstrationen bemühten sich, der Öffentlichkeit eine doppelte Botschaft mitzuteilen. Die Sympathieerklärungen für die Bewohner des Gazastreifens, bisweilen auch für die Hamas, wurden außerdem von dem Signal begleitet, es sei nicht selbstverständlich, sondern bereits ein Sieg, dass sich der Protest überhaupt zeigen durfte. Denn das deutsche Meinungsklima unterdrücke nicht israelfreundliche Positionen systematisch, und zwar so sehr, dass Meinungs- und Versammlungsfreiheit auf rabiate Weise zurückerobert werden müssten. Es gab und gibt Aufrufe zur Gewalt gegen Juden, 171 Polizisten sind bei solchen Aktionen zwischen Oktober und Mai verletzt worden.​

Insbesondere Künstler und Intellektuelle sehen sich in ihren Augen in Deutschland einem akuten Verfolgungsdruck ausgesetzt. Gelegentlich klingt es, als würden Andersdenkende schon aus dem gesellschaftlichen Leben entfernt werden, als müssten Israelkritiker fürchten, plötzlich von der Bildfläche zu verschwinden. Ein im Kulturmilieu weitverbreiteter Gemeinplatz besagt, dass die Art und Weise, wie sich die Bundesrepublik ihrer Vergangenheit stellt, in Gesinnungsterror und Repression eingemündet sei. Die Antisemitismuskeule treffe mittlerweile alle, die für palästinensische Positionen Verständnis zeigten. Es sei die viel gepriesene deutsche Erinnerungskultur selbst, die in ihrer Fixierung auf jüdisches Leben und auf Israel einen neuen Rassismus aufgerufen habe, einen antimuslimischen. Vor allem sei es diese angeblich dogmatische Geschichtslehre, die einen friedlichen Austausch über die Situation im Nahen Osten unmöglich mache.​

Der Vorwurf wirkt schwer. Im Grunde besagt er, das "Nie wieder!" sei eine Lüge, und in Wahrheit wiederhole sich 1933, der deutsche Ausgrenzungs- und Reinigungswahn, heute allerdings unter antimuslimischen Vorzeichen. Wahr ist allerdings, dass die meisten Menschen in Deutschland diese Ansicht nicht teilen. Die meisten Deutschen blicken vielmehr mit einer gewissen Verwunderung auf jene Milieus im Kunst- und Universitätsbetrieb, die Ausgrenzung vor allem für sich selbst reklamieren und die sich für mundtot gemacht erklären, während sie die Medien munter bespielen. Breite und Beredsamkeit dieser Proteste begleitet auch ein gewisser Selbstwiderspruch.​

Die Unterstellung, es werde im Umkreis der deutschen Erinnerungskultur massenhaft gecancelt, löst auch deswegen Zweifel aus, weil diese Kultur niemals eine kommunikative Umgebung war, in der Meinungen unterdrückt wurden (Ausnahme: die ausdrückliche Leugnung des Holocaust). Vielmehr galt sie die längste Zeit als ein Muster zivilisierter Kommunikation. Die Deutschen waren damit einverstanden, dass die Geschichte aufgearbeitet wurde, und dass ihr Land gewisse Lehren aus dieser Geschichte zog. Wurden sie von einem autoritären Staat einer Hirnwäsche unterzogen oder sind sie unverbesserliche Nazis geblieben?​

Die deutsche Erinnerungskultur, der Gleichgültigkeit vieler Jahrzehnte abgerungen und gelegentlich missionarisch ein wenig überstrapaziert, ist mehr als ein Ensemble von Gedenkstätten, Kränzen und Kanzeln, von denen herab Politiker Reden halten. Sie ist mit den Jahren auch zu etwas Gedanklichem geworden, auf indirekte Weise die bundesdeutsche Gesellschaft mitformend. Im Kern umreißt sie das historische Selbstverständnis der Republik, und dies in Gestalt einer ziemlich vielgestaltigen, aber fest verankerten gesellschaftlichen Einrichtung, eben einer ganzen "Kultur". Einer Reihe von Gruppen wird gedacht. Strittig ist nicht, dass neue auftreten, die an ihr Schicksal erinnert wissen wollen, beispielsweise die Opfer des deutschen Kolonialregimes. Sie alle können Berücksichtigung finden.​

Strittig ist etwas anderes. Denn entgegen dem Anschein ist diese Kultur kein Instrument, in welchem gewissermaßen Module beliebig umgesteckt werden. Vielmehr orientiert sie sich an einer festen inneren Hierarchie, an deren Spitze die Shoah steht, der europäische Judenmord. Auf dieses Ereignis bezieht sich die Verantwortungsübernahme der Bundesrepublik, es strahlt auf ihre Außen-, Bündnis- und Menschenrechtspolitik ab. Wenn das Völkerstrafrecht heute den Tatbestand eines "Verbrechens gegen die Menschlichkeit" kennt, dann liegt ihm genau dieses Ereignis zugrunde. Aber dass die Shoah diese besondere Stellung auf Dauer einnimmt, können weder Historiker dekretieren noch Politiker. Die Institution Erinnerungskultur vermag ihre Bedingungen nicht selbst zu garantieren. Sie steht nicht im Grundgesetz, sie muss von der Gesellschaft aus freien Stücken lebendig gehalten werden.​