In der Serie " Politisch motiviert " ergründen unsere Autorinnen und Autoren politische Themen der Woche. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende , Ausgabe 51/2023.

Das Jahr endet, womit auch 2023 so vieles begonnen hat: mit einer Leitkulturdebatte. Einmal mehr wird eine Weihnachtstradition als nationaler Identitätsmarker ausgemacht, diesmal stieß das Gespräch Friedrich Merz an, der nun erklärte: "Wenn wir von Leitkultur sprechen, von unserer Art zu leben, dann gehört für mich dazu, vor Weihnachten einen Weihnachtsbaum zu kaufen." Man kann alles, was nun beredet und beklagt werden wird, schon mittanzen. Um zu verstehen, warum sich auch dieses Debattenjahr wie eine Tretmühle angefühlt hat, lohnt ein Blick auf die vergangenen Monate, denn gerade der Umgang mit dem Krieg im Nahen Osten war ziemlich beispielhaft für die Diskussionskultur des Landes.

Egal, wie dramatisch die Situation in Israel und Gaza sich gestaltete: Immer wieder rang man hierzulande in den zurückliegenden Monaten selbstbezogen mit der Frage, welche Haltung zum Nahostkonflikt dem Land und seiner Geschichte angemessen sei – und welche "typisch deutsch", und damit (diese Unterstellung schwang oft mit) kurzsichtig und provinziell: Eine sich in leeren Ritualen erschöpfende Erinnerungskultur, die der Soziologe Michal Bodemann einst als "Gedächtnistheater" bezeichnete? Daraus resultierend: eine Solidarität zum israelischen Staat, die angeblich blind für die politischen Realitäten im Land sei? Oder doch eher die Begeisterung für jüdische Intellektuelle aus den Vereinigten Staaten und Israel, die Deutsche angeblich zu ihrer großen Erleichterung davon freisprechen, historische Verantwortung für Israels Sicherheit zu tragen?

An gleich mehreren Fällen wurde diese Frage durchdiskutiert. Als die Schriftstellerin Deborah Feldman Deutschland vor einigen Wochen in einem Meinungsstück für den britischen Guardian den deutschen Umgang mit propalästinensischen Stimmen kritisierte, lobten viele ihre klaren Worte gegen den vermeintlich herrischen, empathiebefreiten deutschen Mainstream. Feldmans Kritiker wiederum handeln sie als "die jüdische Stimme, die deutsche Medien lieben", als antiisraelische Kronzeugin, der man gerade in Deutschland den roten Teppich als Talkshowgast ausrolle.

Eine ähnliche Diskussion entspann sich jüngst um die*den jüdische*n russisch-amerikanische*n Intellektuelle*n Masha Gessen, nachdem Gessen im New Yorker einen Essay über deutsche Erinnerungskultur veröffentlicht hatte und Gaza darin mit einem jüdischen Ghetto während der Nazi-Zeit verglich. Es stand dabei nicht zur Debatte, ob Feldman und Gessen ihre Meinung überhaupt äußern dürfen, das durften und das haben beide mit Breitenwirkung getan. Sehr wohl stand jedoch zur Debatte, ob die Haltungen beider zum Selbstverständnis der Bundesrepublik passen.

Eine erste Antwort auf die Frage, was denn nun wirklich typisch deutsch sei, könnte demnach lauten: Es ist die Frage selbst. Egal, wie komplex und geopolitisch unübersichtlich eine Debatte ist, am Ende schrumpft sie hierzulande allzu oft auf selbstbezogene Identitätsfragen zusammen. Ein großes, chronisch verunsichertes Wir drängt immer wieder auf Selbstvergewisserung: Wer sind wir in der Welt, was macht ein Ereignis mit uns? Und wie sicher ist mein Urlaub? Diese Frage stellte Ende Oktober die Bild-Zeitung angesichts des Kriegs im Nahen Osten. Solche Überlegungen sind ein leichtes Ziel für Spott, aber sicherlich nicht das größte Problem. Wirklich kompliziert wird es, wenn die Sehnsucht nach gut eingeübten Debatten um nationale Befindlichkeiten und historische Besonderheiten die Sicht auf die Welt oder die Interessen anderer Nationen verhängt.

Deutscher Provinzialismus

Besonders deutlich sah man das in diesem Jahr beim Umgang mit Greta Thunberg, die viele Medien als "gefallene Ikone" handelten. Äußerte Thunberg auf eine Weise, die man durchaus fragwürdig finden konnte, ihre Solidarität für die palästinensische Bevölkerung, wollte man in Deutschland erst einmal wissen, wann und wie deutlich sich die hiesigen Ortsverbände von Fridays For Future von ihrer berühmten Vorreiterin distanzieren. Eine Reportage im Spiegel suchte nach den Gründen dafür, warum Thunberg sich verlaufen habe, unter anderem in ihrer Kindheit und ihrem persönlichen Umfeld.

Das war eine Möglichkeit, sich dem Denken und Handeln Thunbergs zu nähern. Eine andere Erklärung dafür, warum Aktivistinnen ihrer Generation (bisweilen allzu einseitig) Partei für die Interessen der Palästinenser ergreifen, bot der US-amerikanische Journalist Ezra Klein kürzlich in seinem Podcast: Die Älteren, die Generation Joe Bidens, hätten noch ein Israel kennengelernt, das sich als sicherer Hafen für die Jüdinnen und Juden der Welt zu etablieren versuchte, aber schwach und verwundbar war. 

Die nächste Generation, der Klein sich selbst zurechnet, sei mit dem Selbstbewusstsein eines gestärkten, nuklear aufgerüsteten Israels aufgewachsen. Junge Menschen in Thunbergs Alter wiederum würden aus eigener Anschauung vor allem die Nachrichtenbilder eines israelischen Staats kennen, der unter Netanjahu immer weiter nach rechts rückt. So eine Analyse ist kein Hexenwerk – sofern man sich darauf einlassen möchte, das Land Israel, seine Geschichte und Interessen in den Blick zu nehmen, statt sich allein auf (sicherlich legitime) Fragen von Moral und Staatsräson zu beschränken.

Die Klage darüber, wie provinztheaterhaft es auf deutschen Debattenbühnen zugeht, ist keinesfalls neu. Schon vor Jahrzehnten polemisierte der FAZ-Journalist und Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Bohrer gegen den deutschen Provinzialismus, den er unter anderem als Folge der föderalistischen Kleinstaaterei und Wohlstandspiefigkeit in der BRD der Nachkriegszeit sah. Bis heute tut sich Deutschland mit seinem Selbstverständnis als weltoffene Einwanderernation schwer, wird zugleich aber beim Blick auf das intellektuelle Leben etwa in US-amerikanischen Großstädten oft von Phantomschmerzen geplagt. Auch eben dort sozialisierte Denkerinnen wie Feldman stimmten 2023 ein in dieses ewige Selbstgespräch der Bundesrepublik. So gesehen ist sie also gut angekommen in Debattendeutschland.