Dieser Artikel ist Teil von  ZEIT am Wochenende , Ausgabe 41/2023. Read the English version here.

1. "Ich hatte schon Angst, da zu sitzen"

Die große Steinplatte, die aus dem vierten Stock des Berliner Wohnblocks fiel, zerbrach in fünf oder sechs Stücke und hinterließ einen kleinen dunklen Riss im Asphalt des Hinterhofs. Ein Mann, der nur einen Meter von der Einschlagstelle entfernt saß, sprang von seinem Stuhl auf und eilte erschrocken zu uns. "Ich hatte schon Angst, da zu sitzen", erzählte er uns später, "eine Frau schrie verrücktes Zeug aus dem Fenster über mir." Hätte die Platte seinen Kopf getroffen, hätte sie ihn höchstwahrscheinlich getötet. Zunächst waren wir schockiert, dann fragten wir uns, ob die Steinplatte tatsächlich heruntergeworfen worden war.

Ein paar Sekunden bevor sie vor unseren Füßen landete, hatte ich in dem Hof noch mit einigen neuen Bekannten eine Party gefeiert, mit Leuten, die ich an jenem Juliabend auf der Heimfahrt im Zug kennengelernt hatte. Ein paar Minuten später verließen wir alle die Party, immer noch aufgewühlt. Weder ich noch sonst jemand kam auf den Gedanken, die Polizei zu rufen: Der ganze Vorfall erschien uns zu unwirklich. Um meine Gedanken zu ordnen, ging ich auf Twitter und schrieb einen kurzen Thread über das Erlebnis, auf den zwei Personen mit dem Hinweis reagierten, dass die Sache nach einem Mordversuch klinge. Die Berliner Polizei nahm die Angelegenheit offensichtlich sehr ernst, denn zwei Wochen später erhielt ich von ihr eine Einladung zu einer Befragung.

Bevor ich zu dem Termin ging, sprach ich mit einem meiner Freunde von der Party. Er war so geistesgegenwärtig gewesen, sich den Schauplatz einige Tage danach noch einmal anzuschauen. Nachdem er auch die anderen Gäste noch einmal befragt hatte, kam er zu dem Schluss, dass es zweifellos ein Angriff gewesen sein musste. Es war uns natürlich aufgefallen, dass fast alle auf der Party Schwarz gewesen waren, und wir fragten uns, ob dieser Vorfall ein rassistisches Motiv gehabt hatte: ein Verdacht, den ich dann der Polizei mitteilte.

Unter dem Eindruck, dass sich die Stimmung in Berlin womöglich verschlechterte, fragte ich meinen Freund, ob er in den letzten Monaten eine Zunahme rassistischer Vorfälle bemerkt habe. Daraufhin erzählte er mir, dass er im Wedding, einem multikulturellen Bezirk im Norden der Stadt, von einer weißen Person angespuckt worden sei. Das, sagte er, sei ihm vorher noch nie passiert. Ich konnte mir nicht sicher sein, was in der Stadt, in der ich seit fast einem Jahrzehnt zu Hause bin, vor sich ging, aber man darf wohl sagen, dass die Anzeichen alarmierend waren.

2. Wir leben nicht mehr in Merkels Deutschland

Ich versuche seit Längerem, über den Aufstieg der extremen Rechten in Deutschland zu schreiben, einem Land, in dem sich die AfD in einem Umfragehoch befindet und gerade erhebliche Stimmenzuwächse bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern erzielt hat, weitab von ihren traditionellen Hochburgen im Osten. Dort schickt sie sich an, im kommenden Jahr bei den Wahlen in drei Bundesländern zur stärksten Kraft aufzusteigen. Ich versuche es weiter, und ich scheitere weiter. Das liegt zum Teil daran, dass Berlin einen typisch wechselhaften Sommer erlebt hat und ich lieber nach draußen gestürzt bin, um jeden herrlichen Tag zu genießen, der sich mir bot. Wer will bei Sonnenuntergängen wie unseren schon freiwillig an seinem Laptop kleben bleiben, um über race zu schreiben? Doch es gibt noch einen weiteren Grund, warum es mir so schwergefallen ist, diesen Essay fertigzustellen: Es ist anstrengend, als Schwarze Person immer wieder Warnungen aussprechen zu müssen, die nicht beachtet werden.

Nein, ich habe nicht vorausgesagt, dass eines Tages mehr als 20 Prozent der deutschen Wählerschaft regelmäßig den Wunsch äußern würden, eine Partei zu wählen, deren führende Mitglieder Sympathien für faschistische Ideen hegen. Sehr wohl aber habe ich vorausgesagt, so wie viele andere, denen man auch nicht zugehört hat, dass sich das Land in eine sehr unschöne Richtung entwickeln würde, wenn man die extreme Rechte ignoriert oder ihr freie Hand lässt – wie es in Deutschland seit Jahren der Fall ist. Ich schreibe diesen Essay jetzt nicht, um irgendjemanden von der Bedrohung zu überzeugen. Ich möchte lediglich in einigen Monaten oder Jahren zurückblicken und mir sagen können: Du hast dir das nicht eingebildet. All das ist wirklich passiert.

Vor einigen Monaten machte ich einen Überraschungsbesuch zum Geburtstag bei einem Cousin in Dublin. Als wir uns über unser Leben austauschten, kamen wir auch auf die jüngsten Umfrageerfolge der AfD zu sprechen, und er zeigte sich ungläubig. Wie, fragte er, könne ein Land mit Nazivergangenheit die Aussicht auf eine Nazizukunft begrüßen? Nun, sagte ich, obwohl eine Menge Leute eine Menge getan hätten, um diese Ideologie zu bekämpfen und auf ihre Schrecken hinzuweisen, bleibe einfach noch eine Menge zu tun. Das Entscheidende aber sei, dass zu viele Zeitgenossen dieser engagierten Menschen großes Interesse daran hätten, den Kampf nicht anzunehmen. Folglich kommen die ideologischen Nachfahren früherer Nazis einer Regierungsbeteiligung in Deutschland jeden Monat näher.

Selbst während ich diese Worte tippe, kann ich mir kaum vorstellen, warum sich überhaupt jemand für das interessieren sollte, was ich zu sagen habe. Ich bin vor neun Jahren nach Deutschland gezogen, kurz nachdem Björn Höcke seinen Aufstieg begonnen hatte. Ich brauchte einfach eine Veränderung in meinem Leben, das ich bisher ausschließlich in Großbritannien verbracht hatte. Also nutzte ich meine Reisefreiheit innerhalb der EU – die es natürlich seit dem Brexit nicht mehr gibt –, um diese Veränderung einzuleiten. Entscheidend dabei war, dass das Deutschland, in das ich kam, zwar seine Probleme hatte, aber von Angela Merkel regiert wurde, die während ihrer Kanzlerschaft nie versucht hat, am rechten Rand zu fischen. Vielmehr verantwortete sie – trotz all ihrer Fehler, wie der ungenügenden Investitionen in die Infrastruktur oder der wirtschaftlichen Zuchtmeisterrolle gegenüber Griechenland – eine der fortschrittlichsten Maßnahmen, die sich europäische Politiker in den letzten Jahren getraut haben, indem sie einer Million Syrern im Sommer 2015 Zuflucht gewährte. Für diesen mutigen Schritt wurde sie erst weithin bewundert und dann weithin gehasst. Während ihrer Kanzlerschaft gehörte Merkel zu den entscheidenden Kräften in Deutschland – neben der unermüdlichen und in der Regel kaum gewürdigten Basisarbeit von Antifaschisten –, die die AfD größtenteils in Schach halten konnten.

Aber wir leben nicht mehr in Merkels Deutschland. Das Land wird jetzt von Olaf Scholz regiert, einem Kanzler, der in meinen Augen atemberaubend selbstgefällig mit der Bedrohung durch die extreme Rechte umgeht. Führende Partei in bundesweiten Umfragen ist derweil die CDU, deren Vorsitzender Friedrich Merz bei jeder sich bietenden Gelegenheit AfD-Themen und -Rhetorik aufzugreifen scheint. Wie ist es so weit gekommen? Ich habe viel über diese Frage nachgedacht, und meine Antwort ist zweiteilig. Erstens hat die extreme Rechte die schlimmste Phase der Corona-Pandemie wirksam genutzt, um sowohl online als auch auf der Straße neue Mitglieder anzuwerben. Zweitens – und das erscheint mir ebenso schwer zu schlucken wie wahr – gibt es eine weiße deutsche Mehrheit, der eine kleine Zahl von zugewanderten Schwarzen und People of Colour in ihrem Land schlicht großes Unbehagen bereitet.

Ich bin überzeugt, dass das Leben in Deutschland, wenn man wohlhabend ist und nicht wegen Hautfarbe, Religion oder Geschlecht diskriminiert wird, dem Himmel auf Erden so nahekommt wie nichts sonst, was ich bisher gesehen habe. Ich glaube das wirklich. Menschen mit diesen Privilegien genießen hierzulande alle Freiheiten, die sie sich wünschen können. Ihre Rechnungen sind bezahlbar, ihr Gesundheitswesen funktioniert, und ihre öffentlichen Verkehrsmittel sind in der Regel ausgezeichnet und vor allem erschwinglich. Ich sage oft, dass ich aus dem Stegreif ein Dutzend wunderschöner deutscher Städte aufzählen könnte, in denen jeder wohlhabende weiße und deutsche Neuankömmling überglücklich wäre wegen der hohen Lebensqualität. Die Voraussetzungen für ein glückliches Leben sind hier besser als irgendwo sonst. Wie könnten zugewanderte Schwarze und People of Colour sie noch einmal verbessern?

Kürzlich habe ich eine Freundin zum Essen getroffen, eine Kenianerin, die seit einigen Monaten in Berlin lebt. Wir sprachen über die Animosität in Deutschland gegenüber Ausländern, und sie sagte: "Ist dir schon mal aufgefallen, dass es nicht viele Schwarze Einwanderer gibt, die hier alt werden? Wenn sie uns hier schon nicht haben wollen, solange wir jung und gesund sind", fügte sie hinzu, "dann glaube ich auch nicht, dass sie uns mögen werden, wenn wir alt und auf ihre Hilfe angewiesen sind." Wir saßen an einer Straßenecke, am Rand einer langen Allee, und sie deutete auf die teuren Autos, die gemächlich vorbeifuhren. "Schau's dir an", sagte sie, während wir den sanft ausklingenden Sommer auf uns wirken ließen. "Das Leben hier ist gut. Warum sollten die Deutschen es mit irgendjemand teilen wollen? Warum sollten sie es mit uns teilen wollen? Sie wollen es für sich behalten."