In der Serie "Politisch motiviertergründen unsere Autorinnen und Autoren politische Themen der Woche. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 35/2023.

Fangen wir doch mal mit Ihnen an. Sie haben sich bestimmt erst kürzlich mal wieder aufgeregt: über die Geldschwemme des saudischen Profifußballs, über Hubert Aiwanger oder Harald Schmidt, der sich kürzlich mit den Rechtsabbiegern Hans-Georg Maaßen und Matthias Matussek fotografieren ließ. Oder das Gegenteil ist der Fall und Sie haben sich über die Leute aufgeregt, die all das so aufregt. Genau wie Harald Schmidt selbst. Der zeigte sich zuletzt im Interview mit der ZEIT überaus genervt von Moraldebatten und vermeintlichem Gratismut. "Haltung zeigen kostet gar nichts. Null", sagte er.

Ist das so? Das könnte man etwa Sawsan Chebli fragen, die SPD-Politikerin, die viel und meinungsstark twittert. Bei vielen Terminen begleitet sie heute ein Personenschützer. Ein konservativer Politiker wie Walter Lübcke, der sich für die Aufnahme von Geflüchteten aussprach, wurde von einem Rechtsextremisten ermordet. Natürlich kann eine Haltung kosten, einiges sogar. Besonders auch dann, wenn man keine Person des öffentlichen Lebens ist.

Einen Punkt hat Harald Schmidt trotzdem: Haltung zeigen ist vielleicht nicht gratis, manchmal aber auch nicht besonders ertragreich. Obwohl der Erregungspegel in den letzten Jahren gleichbleibend hoch scheint, hat man oft das Gefühl, dass sich wenig Grundlegendes ändert. Ob der Skandal um Aiwanger zu einer neuen, tiefergehenden Debatte darüber führt, wie gut die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik tatsächlich geklappt hat und was das für die Gegenwart bedeutet: unwahrscheinlich. Die Wahl zwischen Lastenrad und Familienauto mag, zumindest in bestimmten Kreisen, ein Politikum sein, von ihren Klimazielen sind dennoch die meisten Industrieländer weit entfernt. Und obwohl die Black-Lives-Matter-Proteste in den USA für historische Bilder sorgten, scheint sich an der Polizeibrutalität insbesondere gegenüber Schwarzen Menschen nicht allzu viel verändert zu haben. Man redet und wütet sich dusselig und doch bleibt vieles folgenlos.

Der belgische Ideenhistoriker Anton Jäger hat für diesen diskursiven Schwebezustand zuletzt den Begriff der Hyperpolitik geprägt und diesem auch ein im Oktober bei Suhrkamp erscheinendes Buch gewidmet. Das Phänomen der Hyperpolitik erklärt er vor dem Hintergrund der Politisierungsgeschichte der letzten Jahrzehnte: Die (zumindest vielerorts) fetten Jahre nach dem Mauerfall waren die Zeit der sogenannten Postpolitik, in der sich viele um Politisches kaum scherten. Man lebte recht satt vor sich hin, jeder auf seiner Scholle. Damit war es spätestens mit der Bankenkrise vorbei und die Welt trat ein in die Phase der Antipolitik. Es waren Jahre der Um- und Unordnung.

Alle haben eine Meinung, wenige eine Organisation

Die Revolutionen im arabischen Raum, die Indignados in Spanien, die Protestierenden im Istanbuler Gezi-Park und die Aktivsten von Occupy Wallstreet, sie alle hatten das Gefühl, Politik für die berühmten 99 Prozent müsse nun von unten kommen. "Populismus" avancierte zum Schlagwort des Jahrzehnts. Eine Art Begleitheft dieser Tag wurde die 2010 erschienene Flugschrift Empört euch! des französischen Widerstandskämpfers und Diplomaten Stéphane Hessel. Zehn Jahre zuvor hätten die Turbonihilisten der Neunziger den Titel wohl noch rührend revolutionskitschig gefunden, zehn Jahre nach Erscheinen klingt er vor allem redundant. Vorschläge wie "Schaut Netflix!" oder "Bestellt mal bei Wolt!" hätten ein ähnliches Erschütterungspotenzial.

Warum das so ist, erklärt Jäger mit dem Scheitern vieler Hoffnungsträger. Besonders gut gelaufen ist die Sache mit der Empörung für progressive Kräfte nämlich nicht. Linke Protestparteien wie die Syriza in Griechenland und Lichtgestalten wie Bernie Sanders haben das Jahrzehnt geprägt, aber schlussendlich nicht tiefgreifend beeinflusst. Sie alle haben es nicht geschafft, die so unterschiedlichen Milieus, die empfänglich wären für linke Ideen, hinter sich zu vereinen. Rechte Antipolitiker waren etwas erfolgreicher: Trump hat vielleicht nicht seine Mauer an der Grenze zu Mexiko bekommen, aber immerhin Steuersenkungen vorangetrieben und die US-Gesellschaft nachhaltig polarisiert.                  

In der Phase der heutigen Hyperpolitik, so könnte man es zugespitzt zusammenfassen, lebt zwar immer noch jeder auf seiner postdemokratischen Scholle, also in einer Welt, in der Parteien, Gewerkschaften oder politische Bewegungen an Einfluss verlieren, ist aber gleichzeitig aufgestört vom kurzen Revolutionsrausch der Zehnerjahre. Alle haben eine Meinung, die wenigsten eine Organisation, in der sie sich einbringen. Die Bereitschaft, sich in Ortsteilgruppen zu engagieren, ist nämlich nicht genauso schnell gestiegen wie der Empörungswille. Also fehlt den Ideen der ausführende Körper. Eine flüchtige Demo- oder Telegramgruppe könne kaum die nötige Schlagkraft für echte Veränderung entwickeln, glaubt Jäger.

Sich ordentlich zu organisieren, würde – und da wären wir wieder bei Harald Schmidt – tatsächlich etwas kosten, und zwar Zeit, Kraft und Nerven. Und die haben die wenigsten. Für die Demokratie ist das mindestens mittelfristig ein Problem. Man fragt sich aber, ob es wirklich das ist, was Empörungskritiker wie Schmidt ernsthaft stört: dass aus viel Gedröhne noch kein organisiertes Handeln folgt. Oder ob es ihnen einfach zu stressig ist, dass andere Leute auch eine Meinung haben.