Wir leben in Zeiten, die uns einiges Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb fragen wir in der Serie "Worüber denken Sie gerade nach?" führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Stimmen des öffentlichen Lebens, was sie gegenwärtig bedenkenswert finden. Die Fragen stellen Maja Beckers, Andrea Böhm, Christiane Grefe, Nils Markwardt, Peter Neumann, Elisabeth von Thadden, Lars Weisbrod oder Xifan Yang. Heute antwortet der Philosoph Gunnar Hindrichs.

Gunnar Hindrichs ist Professor für Philosophie an der Universität Basel und zurzeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Zuletzt erschien von ihm "Zur kritischen Theorie" (Suhrkamp, 2020). © Wissenschaftskolleg zu Berlin

ZEIT ONLINE: Gunnar Hindrichs, worüber denken Sie gerade nach?

Gunnar Hindrichs: Mich beschäftigen zwei Dinge. Einerseits meine zurückgezogene Arbeit am Wahrheitsbegriff, andererseits die Kriegssituation in der Ukraine. Krieg und Frieden ist ein altes philosophisches Thema. Als Philosophiehistoriker versuche ich Spiegelungen in philosophiehistorischen Zusammenhängen zu erfassen, in der Hoffnung, dass uns heute noch die Gedanken von damals dabei helfen, uns besser zu verstehen. Das ist kein unmittelbarer Zugang. Eher eine Selbstdistanzierung. Jede Reflexion ist Distanzierung, eine Brechung. Und das fällt uns heute schwer.

ZEIT ONLINE: Worin erkennen Sie genau das Problem in der gegenwärtigen Diskussion?

Hindrichs: Ich sehe das Hauptproblem darin, dass man in die Form unmittelbaren Bekennens zur einen oder zur anderen Partei hineingezogen wird. Deshalb scheint mir auch jede Form der Distanznahme im Moment so wichtig. Nicht im Sinne eines Heraushaltens. Sondern in Form eines Abstandnehmens, Draufschauens, des Versuchs einer Klärung.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Hindrichs: Der Historiker Reinhart Koselleck hat einmal die These vertreten: Die Bekenntnisstruktur, die in die Glaubenskriege des 16. und 17. Jahrhunderts geführt hat, kehrt in der bürgerlichen Öffentlichkeit der Moderne wieder. Aber in verwandelter Form: Das sogenannte forum internum des Gewissens, das immer der Rückzugsort des religiösen Glaubensbekenntnisses gewesen ist, wird in der Öffentlichkeit zu einem forum externum, zu einem äußeren Diskurs. Damit wird das Bekenntnis sozusagen publik. Auch wenn die Kriege und Zeiten heute andere sind, scheint mir auf der grundsätzlichen Ebene hier eine Verbindung zu bestehen. Was früher als innere Glaubensfrage verhandelt wurde, ist heute Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit, in der die Bekenntnisse unvermittelt aufeinanderprallen.

ZEIT ONLINE: In der Öffentlichkeit wird nun einmal gestritten. Mitunter auch hart und emotional. Ist das nicht ganz normal?

Hindrichs: Dass wir streiten, ist normal. Die Zivilgesellschaft ist im Grunde die bürgerliche Öffentlichkeit, die zu sich selber gekommen ist. In ihr kann einerseits der kommunikative, andererseits der agonale Austausch von Überzeugungen stattfinden. In meinen Augen sind die wichtigsten Theoretiker, die das formuliert haben, Jürgen Habermas und Hannah Arendt. Während Arendt das agonale Moment, also den Wettstreit der Überzeugungen, hervorhebt, betont Habermas den kommunikativen Austausch, also das Moment, dass wir bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen, wenn wir an einem Diskurs teilnehmen wollen. Zum Beispiel verpflichten wir uns dem anderen gegenüber ehrlich, aufrichtig und wahrhaftig zu sein.

ZEIT ONLINE: Aber?

Hindrichs: Ebendiese Zivilgesellschaft hat sich zu Beginn des Krieges in Teilen in eine militaristische Kundgebung verwandelt – mit Fahnen und nationalen Symbolen an Theatern, Bibliotheken und Kirchen. Mit Elementen also, von denen man eigentlich sagt, die gehören nicht in eine Zivilgesellschaft hinein. Das hat mich damals stark irritiert und zum Nachdenken gebracht. Die Zivilgesellschaft ist heute längst zu einer Kriegszivilgesellschaft geworden.

ZEIT ONLINE: Kriegszivilgesellschaft – was meinen Sie damit?

Hindrichs: Die Zivilgesellschaft beteiligt sich am Krieg und zeigt sich parteiisch. Und sie tut das auf der Grundlage des Narrativs, dass sie selber in der Ukraine auf dem Spiel stehe. Das heißt, wenn andere Haltungen im Ukraine-Krieg auftreten, von den absurdesten Vorstellungen bis hin zu rationalen Erwägungen über die Möglichkeit von Friedensverhandlungen, wird sofort eine Grenze gezogen. Dabei ist es doch gar nichts Ungewöhnliches im Angesicht von Kriegen, dass man darüber nachdenkt, wie sie enden können. Gerade weil aber die Zivilgesellschaft glaubt, selbst angegriffen zu werden, positioniere ich mich, wenn ich innerhalb der Zivilgesellschaft für einen Verhandlungsfrieden argumentiere, in den Augen dieser Zivilgesellschaft heute gegen die Zivilgesellschaft selbst. Und das ist doch verrückt, weil die Zivilgesellschaft gerade darin zivil ist, dass sie den Austausch von Überzeugungen erlaubt.

ZEIT ONLINE: Und mit diesem Austausch ist nun Schluss?

Hindrichs: Wer innerhalb der Zivilgesellschaft über einen Verhandlungsfrieden diskutiert, ist antizivilgesellschaftlich. Weil Putin – sprich: der Autoritarismus – die Zivilgesellschaft in der Ukraine angegriffen hat. Das ist das Argument. Diese Schlussfolgerung ist in der Struktur des Bekenntnisses selbst angelegt. Wenn es zum Bekenntnis kommt, dann bekenne ich mich öffentlich. Und wenn ich mich zum Verhandlungsfrieden äußere, dann bekenne ich mich in den Augen der Zivilgesellschaft gerade dazu, dass die Zivilgesellschaft angegriffen werden kann. Und daraus resultieren dann die heftigen emotionalen Reaktionen. Die eine Seite beschimpft die andere. Man hört sich nicht mehr zu.

ZEIT ONLINE: Hat die Zivilgesellschaft ihr Versprechen auf kommunikative Befriedung damit nicht eingelöst?

Hindrichs: Die Zivilgesellschaft zieht uns an, weil sie verspricht, zivil zu sein. Sie ist angesiedelt zwischen dem Staat einerseits und der Ökonomie andererseits. So zumindest ihr idealtypisches Bild. In dieser Freiheit vom Staat ist auch die Freiheit vom staatlichen Krieg enthalten. So lautet das Versprechen: Verständigungshandeln, oder auch Streit, aber eben nicht Krieg. Dieses Versprechen wird nicht eingelöst, wenn sich die Zivilgesellschaft in den Dienst von Kriegen stellt, weil sie meint, dass sie selber in einem Krieg verteidigt werde. Manchmal werden jetzt Vergleiche gezogen zur Friedensbewegung der Achtzigerjahre, als erfolge gerade eine Wiederholung. In meinen Augen ist das falsch. Wir haben eine andere Situation. Damals glaubte sich die Zivilgesellschaft selber nicht angegriffen. Jetzt aber reagieren die Menschen anders, im Sinne einer starken affektgesteuerten Reaktion auf gewisse Positionen. Der Grund: Die Zivilgesellschaft selber sieht sich in der Ukraine angegriffen.

ZEIT ONLINE: Wie lässt sich die Zivilgesellschaft wieder befrieden?

Hindrichs: Selbstreflexionen dienen der Distanznahme. Sehen wir diesen Umschlag einer zivilen Gesellschaft in die Kriegszivilgesellschaft, dann haben wir schon Distanz zu ihr genommen. Mir ist wichtig, dass wir uns damit auseinandersetzen, was wir gerade machen, wie sich unsere bürgerliche Gesellschaft momentan verändert. Die Zivilgesellschaft bildet eben nicht das Andere zum Krieg, sondern nimmt selbst an ihm teil. Es zeigt sich hierin, dass die Zivilgesellschaft selber ideologisch werden kann. Und wenn das passiert, sind wir nicht mehr gesprächsfähig. Dann können wir nicht mehr miteinander diskutieren. Dann können wir auch keinen Frieden mehr miteinander schließen. Dann steht Himmel gegen Hölle.