Man sollte sich eigentlich zurückpfeifen, bevor man allzu dramatisch wird. Falsche Prioritäten, erbarmungswürdige Idiotien oder auch schreiende Ignoranz hat es schließlich schon gegeben, seitdem diese Welt kein Himmelreich ist, also immer. Und immer schon hat es verschiedene Lager gegeben, die einander genau das vorwerfen: die Welt mit ihrem jeweiligen Denken und Handeln näher an den Abgrund zu führen. Aber in den sind wir alle noch nicht reingefallen, und das spricht für die Möglichkeit, dass am Ende alles doch gut ausgeht, oder? Dafür, dass auch die Krisen der Gegenwart in der Rückschau kleiner werden. Und sei es nur, weil neue, noch größere dazukommen.

Jedoch: Genau das möchte man sich mit Blick auf diese Gegenwart kaum ausmalen. Was, wenn der Ukraine-Krieg oder ein anderer, den wir uns noch nicht vorstellen können, zu noch größeren Knappheiten, Verteilungssorgen und Preissprüngen führt? Was, wenn sich die Klimakatastrophe noch harscher manifestiert? Dann verlieren die Deutschen doch irgendwann diesen demokratierelevanten Resthumor: Politisch mag Person XY zwar ganz anders ticken. Ein guter Kerl ist sie trotzdem.

Damit sind wir aber schon mitten in einem Jahr, in dem sich auch bürgerliche und die Demokratie bejahende Kräfte auf mehreren Feldern spektakulär voneinander entfernt haben. So glauben manche in der Frage der radikalisierten Klimaproteste der Letzten Generation, die Bundesregierung verlasse durch ihr Nicht- oder Minderhandeln beim Klimaschutz den Pfad der verfassungsgemäßen Ordnung, und damit sei ziviler Ungehorsam mindestens als moralisches Mittel legitimiert. Und es gibt andere, die im Ungehorsam eine unerträgliche Anmaßung sehen, einen Eingriff in das Leben Dritter, eine Selbstüberhebung im Rahmen der Demokratie und ihrer Mehrheiten oder gar beginnenden Terrorismus, die Wurzeln einer Klima-RAF.

Friedensbotschaft oder weltfremder Zynismus?

Den Bruch gibt es nicht nur bei diesem Thema. Über Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ist kaum ein deutsches Gespräch möglich, solange es angesichts unterschiedlicher Wahrnehmungen Russlands und seiner Feindbeziehungen keinen Konsens über das Jahrzehnte so selbstsichere "Nie wieder" gibt: "Nie wieder Faschismus" oder "Nie wieder Krieg"? Plötzlich stellen wir fest, dass mutmaßlich geteilte Grundüberzeugungen – Zurückhaltung als Deutsche in Fragen des Krieges, aber auch Skepsis gegenüber jeglichem Imperialismus und Kampf jedem aufkommenden Faschismus – lediglich temporäre Kongruenzen waren. Das sprengt sogar gesellschaftliche Institutionen, die man zumindest in solchen Fragen auf sicherem Grund wähnte. Plötzlich treten Menschen aus der evangelischen Kirche aus, nicht weil sie vom Glauben abfallen, sondern sie die Friedensbotschaften ihrer Führungsfiguren nicht mehr ertragen und darin einen weltfremden Zynismus gegenüber den Anliegen der Ukrainerinnen erkennen.

Alles das lässt sich kaum wertneutral schildern, und da liegt das Problem: Es geht gerade auf vielen Ebenen um viel und nie nur ums Rechthaben. Es herrscht Dringlichkeit in allen Lagern, weil sich viele politisch wache Menschen ernsthaft bedroht sehen durch das, was sie als Wegdriften eines anderen Teils der Gesellschaft wahrnehmen.

So geht es auch in der Historisierung der Corona-Pandemie mit dem Hashtag-Geschrei über #schwereschuld, die Corona-Sensible einer zu zögerlichen Politik anlasten, und #ichhabemitgemacht, womit Corona-Leugner eine zu restriktive Politik als faschistisch denunzieren, nicht um Fragen der Vergangenheit und Gegenwart. Es geht um einen Ausgangspunkt für zukünftige gesellschaftliche Diskussionen und Handlungen: Waren die Maßnahmen in dieser Musterkrise vollends über- oder fatal untertrieben? Sind die handelnden Politikerinnen verantwortlich für Tausende Tote oder im Gegenteil für unnötige Brüche in den Biografien der Lebenden? Auch darüber entzweien sich Menschen mit einem eigentlich affirmativen Verhältnis zum demokratischen Staat und zum evidenzbasierten Diskurs. Auch hier gibt es völlig unterschiedliche Erzählungen darüber, was in welcher Reihenfolge und mit welchen Kausalitäten vorgefallen ist. Und es gibt kaum eine seriöse Möglichkeit, die Vergangenheit in dieser Sache einfach ruhen und die Sache selbst in der Gegenwart irgendwie austrudeln zu lassen. Zu groß ist doch die Sorge, dass eine falsche Erzählung in die Leerstelle drängt, die aus Debattenmüdigkeit gelassen wurde.