Die Fotografin Nan Goldin ist einer der großen Stars der internationalen Kunstszene: Sie gewinnt Preise, führt die Bestenlisten von Zeitschriften an und ein Dokumentarfilm über ihr Leben war im vergangenen Jahr für den Oscar nominiert. Außerdem ist Nan Goldin politisch engagiert und forderte wiederholt den Boykott von Israel, einschließlich seiner Kulturschaffenden und Intellektuellen. Bereits vor einigen Jahren hat die Bundesregierung solche Boykottaufrufe verurteilt – und seit den Anschlägen der Hamas und dem Krieg im Gazastreifen wird umso heftiger über sie gestritten. Was bedeutet das für einen Ausstellungsmacher, der Nan Goldin ausstellen möchte? Fragen an Dirk Luckow, den Intendanten der Deichtorhallen in Hamburg. 

ZEIT ONLINE: Herr Luckow, wir wollen mit Ihnen über Ihre politische Verantwortung als Leiter eines großen Ausstellungshauses sprechen. Der Berliner Kultursenator hatte Anfang des Jahres geplant, die Kulturförderung seiner Stadt an die Bedingung zu knüpfen, dass sich Künstlerinnen und Künstler dazu bekennen, gegen Antisemitismus, Homophobie und Rassismus zu sein. Das ließ sich aber nicht umsetzen. Der Hamburger Kultursenator lehnte diese Idee grundsätzlich ab. Er sagte, die Politik habe die Kunstfreiheit zu achten, alles Weitere sei Aufgabe der Kulturveranstalter. 

Dirk Luckow: Diese Haltung finden wir in den Deichtorhallen selbstverständlich sehr gut. Die politisch Verantwortlichen sollten da nichts verordnen. Es braucht viel Kommunikation auf allen Seiten. Es sind die Gespräche mit den Künstlerinnen und Künstlern, die zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit führen. Seit dem 7. Oktober befinden wir uns in einer Situation, in der politische Kontroversen leicht aufflammen, da ist es ratsam, sich um Deeskalation zu bemühen. Dafür ist es ein wichtiger Schritt, den Dialog fortzusetzen. Man muss Künstlerinnen und Künstlern grundsätzlich das Recht zusprechen, dass sie gleichermaßen Empathie entweder der palästinensischen oder israelischen Bevölkerung gegenüber empfinden und über die Situation in Gaza oder der Geiseln verzweifelt sind. Wenn es um politischen Aktivismus geht, bedarf es einer differenzierten Abwägung zwischen dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und den juristischen Schranken, die zu respektieren sind.

ZEIT ONLINE: Sie werden dieses Jahr mit Nan Goldin eine Foto-Künstlerin ausstellen, die wie keine zweite für die Verbindung von Kunst und Aktivismus steht …

Nan Goldin bei einer Kunstpreisverleihung im Jahr 2019 in Berlin © Christophe Gateau/​dpa

Luckow: Moment, es ist nicht so, dass wir eine große Einzelausstellung von Nan Goldin planen. Die ist in der Nationalgalerie in Berlin vorgesehen, wo ihre Filme und Diaprojektionen ausgestellt werden. Wir zeigen Werke von Nan Goldin aus unseren Beständen der Sammlung F. C. Gundlach. Es gibt dort über hundert Prints, ein echter Schatz. Wir kombinieren sie mit Arbeiten von David Armstrong, Philip-Lorca diCorcia und Mark Morrisroe, dem Freundeskreis um Nan Goldin in der Bostoner Fotoszene der Achtziger- und Neunzigerjahre. Diese Ausstellung läuft bei uns in der Halle für aktuelle Kunst parallel zu einer Retrospektive von Franz Gertsch, ein Weltkünstler wie Nan Goldin und Klassiker, den wir durch die subkulturelle Welt von Goldin und den befreundeten Fotografen ergänzen. Sie alle, auch Gertsch, richten den Blick auf ihre eigene Szene und Bekannte, zeigen persönliche, gebrochene, intime Motive. Da gibt es viele Verbindungen zu entdecken.

ZEIT ONLINE: Nan Goldin hat konsequent die Papiere der antiisraelischen Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) unterschrieben, vor dem 7. Oktober und auch danach. Haben Sie deshalb gezögert, sie auszustellen?

Luckow: Die Idee der Ausstellung existierte schon lange vor dem 7. Oktober. Uns wurde parallel bewusst, dass Nan Goldin sich deutlich auf die Seite Palästinas stellt – übrigens als jüdische Künstlerin, was in diesem Fall eine wichtige Rolle spielt. Es war ein Schock, als im vergangenen Jahr in Saarbrücken eine Ausstellung von Candice Breitz abgesagt wurde,��ebenfalls eine jüdische Künstlerin und in Südafrika aufgewachsen, aufgrund von Äußerungen zum Nahostkonflikt, die mit ihrer eigenen Biografie zusammenhingen. In der Ausstellung sollte es um Prostitution in Johannesburg gehen, ein ganz anderes Thema!

ZEIT ONLINE: Das war eine Fehlentscheidung?

Luckow: Ehrlich gesagt war es ein Trauerspiel! Einer jüdischen Künstlerin, die sich institutionell und intellektuell in einem offenen, auch jüdischen Umfeld verortet, wird eine Ausstellung abgesagt, mit der Begründung, sie habe sich antisemitisch geäußert? Da stimmt doch etwas nicht! Und es ist ebenso völlig unverständlich, wenn nach dem grauenvollen Überfall der Hamas auf Israelis als erstes "Free Palestine!" skandiert wird.

ZEIT ONLINE: Nan Goldin hat wenige Tage nach dem Anschlag einen offenen Brief in der Zeitschrift Artforum unterschrieben. Darin wurde Israel verurteilt, es war auch schon von "Genozid" die Rede, ohne dass der Anschlag der Hamas mit einem Wort erwähnt wurde. Warum unterschreibt eine Künstlerin ein paar Tage nach dem größten Pogrom seit dem Holocaust so einen Text? Reden Sie mit Nan Goldin über solche Sachen?

Luckow: Wir versuchen grundsätzlich, mit allen Künstlerinnen und Künstlern zu reden und alle relevanten künstlerischen Seiten einzubeziehen. Nachdem wir etwa die Sammlung der Sharjah Art Foundation aus den Vereinigten Arabischen Emiraten unter dem Aspekt der Diaspora präsentiert haben, gab es die Veranstaltung Bridging the Gap, die wir mit dem Freundeskreis des Israel Museums veranstalteten. Darin diskutierten unter anderem Ilit Azoulay, Leon Kahane und Yehudit Sasportas und schlugen eine Brücke. Auch die Ausstellung Survival in the 21st Century wird diese Form des Dialoges fortsetzen. Man muss angesichts der aktuellen Weltlage und auch der speziellen Geschichte Deutschlands sehr sensibel mit der Situation umgehen – beobachten, achtsam sein, dass nicht Öl ins Feuer gegossen wird. Lasst uns doch lieber miteinander sprechen und die Diskussion führen!