Es sind die Betten, die Besucher einer Cholerastation beim ersten Anblick oft irritieren: Feldbetten, schmal, mit Stoff bespannt – und in der Mitte klafft ein Loch. Menschen, die schwer an Cholera erkrankt sind, haben so heftigen Durchfall und sind so geschwächt, dass sie es oft nicht zur Toilette schaffen. Deshalb das Loch. Darunter steht ein Eimer. "Leute sind schockiert, wenn sie das sehen, aber das ist die Realität", sagt Philippe Barboza, Leiter des Choleraprogramms der Weltgesundheitsorganisation in einem Videointerview, das die WHO vor einigen Monaten veröffentlicht hat. 

Cholera ist eine akute Darminfektion. In den meisten Fällen verläuft sie mild. Aber sie kann unbehandelt auch binnen Stunden zum Tod führen. Schwer erkrankte Menschen verlieren durch den wässrigen Durchfall und das Erbrechen literweise Flüssigkeit. Im schlimmsten Fall sterben sie an Organversagen. Besonders gefährdet sind Kinder unter fünf Jahren. Theoretisch müsste es im Jahr 2024 aber nicht mehr dazu kommen.

Verursacht wird die Cholera durch verunreinigtes Wasser oder Essen, ausgelöst durch das Bakterium Vibrio cholerae. Dieses Bakterium ist der Medizin seit mehr als hundert Jahren bekannt. Es ist kein Erreger, der Ärzte vor unlösbare Aufgaben stellt. Es gibt eine Impfung dagegen und günstige Behandlungsmöglichkeiten – Cholera ist vermeidbar und leicht zu therapieren. Umso dramatischer ist, was sich in vielen Ländern gerade abspielt. Seit 2021 erlebt die Welt einen beispiellosen Anstieg der Cholerafallzahlen, auch in Ländern, die zuvor jahrzehntelang von Ausbrüchen verschont geblieben waren. 

Schon 2022 zählte die WHO weltweit 473.000 Fälle, mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Vorläufige Daten deuten nun sogar darauf hin, dass 2023 etwa 700.000 Menschen an Cholera erkrankten. Rund 4.000 starben. Und das sind nur die registrierten Fälle. Auch die ersten Wochen dieses Jahres geben keinen Anlass zur Entwarnung. Aktuell verzeichnen 17 Länder Choleraausbrüche, darunter Afghanistan, Haiti, Sambia und Simbabwe. Fachleute der WHO und internationaler Hilfsorganisationen warnten diese Woche eindringlich, dass die weltweiten Impfstoffvorräte bald erschöpft sein werden und den Bedarf nicht decken können.    

Warum steigen die Zahlen?

Die Cholera grassiert, wo Menschen arm sind, wo ihnen der Zugang zu sauberem Wasser fehlt. Das war schon immer so. Aber dass sich die Lage in vielen Ländern im Moment so zuspitzt, liegt auch am aktuellen Zustand der Welt. Die Cholera ist ein Marker für Krisen und Verwerfungen – soziale, wirtschaftliche und klimatische. Krieg und Vertreibung, Naturkatastrophen wie Erdbeben und auch Extremwetterereignisse wie Wirbelstürme, Überflutungen und Dürren begünstigen die Ausbreitung des Erregers. Denn sie alle erschweren Menschen den Zugang zu sicherem Trinkwasser und zerstören sanitäre Infrastrukturen. In Mosambik und Malawi etwa folgten die schweren Choleraausbrüche im vergangenen Jahr auf den Zyklon Freddy, der länger wütete als je ein Tropensturm zuvor.   

Auch im kriegsgeplagten Syrien ist die Cholera wieder aufgetaucht und trifft auf eine geschwächte Bevölkerung mit vulnerablen Kindern. Dasselbe gilt für andere Konfliktregionen wie etwa die Demokratische Republik Kongo oder den Jemen. Im Gazastreifen befürchten einige nun auch schwere Choleraausbrüche. 

Obwohl diese Zusammenhänge bekannt sind, ist die Welt schlecht darauf vorbereitet. Denn der Impfstoff gegen Cholera erreicht bei Weitem nicht alle, die ihn jetzt brauchen.    

Warum gibt es so wenig Impfstoff?

Die Weltgemeinschaft hat es geschafft, binnen kürzester Zeit mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung mit neuartigen Covid-Impfstoffen zu versorgen. Dieselbe Weltgemeinschaft schaut derzeit mit an, wie Menschen an Darminfektionen sterben, die es im Jahr 2024 nicht geben müsste. Zwar existiert seit Jahren eine wirksame Schluckimpfung. Doch die Vielzahl der Ausbrüche in verschiedenen Ländern hat die Nachfrage so stark steigen lassen, dass der Hersteller mit der Produktion nicht mehr hinterherkommt. Im vergangenen Jahr orderten betroffene Länder 76 Millionen Dosen Impfstoff, doch nur die Hälfte davon konnte geliefert werden. Der Grund liegt auf der Hand: Alle Impfstoffdosen kommen derzeit von einem einzigen Unternehmen, der Firma EuBiologics in Südkorea.

Dass dieser Hersteller Probleme kriegen könnte, den wachsenden Bedarf zu decken, war längst absehbar. Bis Ende 2022 gab es einen weiteren Hersteller, ein indischer Ableger von Sanofi. Als der sich vom Markt zurückzog, war der Impfstoff bereits knapp. Im Oktober 2022 hatte das Expertengremium der WHO, die International Coordinating Group, sogar seine Impfempfehlung ändern müssen: Seither erhalten die Menschen in betroffenen Gebieten nur noch eine Dosis statt zwei. Die Vorräte lassen sich dadurch etwas strecken, der Impfschutz hält aber weniger lang. Eine Lösung auf Dauer ist das nicht.

Frühestens Ende des Jahres sollen zwei weitere Hersteller in Südafrika und Indien in die Impfstoffproduktion einsteigen. Bis dahin versucht EuBiologics, seine Kapazitäten zu steigern. Das Unternehmen hat sogar eine vereinfachte Version seines Impfstoffs entwickelt, um mehr davon herstellen zu können. Doch Fachleute bezweifeln, dass das den akuten Mangel noch abwenden kann.  

Es wäre einfach, Cholera zu behandeln

Impfungen sind allerdings nur ein Teil der Lösung. Solange es Menschen in so vielen Ländern an Trinkwasser mangelt, wird die Cholera nicht verschwinden. Es braucht hygienische Lebensbedingungen, sauberes Wasser und Seife, sanitäre Anlagen. Es braucht mehr geeignete Behandlungszentren für Infektionsfälle sowie eine systematische Früherkennung für Ausbrüche. Die Mittel, um die Cholera einzudämmen und jährlich Tausende Menschenleben zu retten, sind bekannt. Sie sind nicht kompliziert und oft nicht mal teuer.  Man brauche "keine Beatmungsgeräte, keine Intensivstation oder große Krankenhäuser", sagt der Choleraexperte Philippe Barboza im Videointerview der WHO. Einfache Elektrolytlösungen können helfen, dem Flüssigkeitsverlust entgegenzuwirken. In schweren Fällen brauchen die Erkrankten Infusionen und Antibiotika. "Das ist sehr einfach", sagt Barboza.

Zugleich ist es genau das, was Fachleute wie ihn verzweifeln lässt. Denn oft genug fehlt es selbst an diesen einfachen Mitteln. "Menschen sterben noch immer", sagt Barboza, weil sie keinen Zugang zu einem Tütchen Elektrolyte hätten, das nur wenige Cents koste. Das sei inakzeptabel – wenn man es doch so leicht verhindern könnte. Die Menschheit fürchtete die Cholera jahrhundertelang. Und fürchtet sie noch immer – nur nicht mehr in unserem Teil der Erde.