Die Idee, seine Schule fortschrittlicher und digitaler zu machen, hat Martin Fugmann aus dem Silicon Valley mitgebracht. Der Schulleiter am Evangelisch Stiftischen Gymnasiums (ESG) in Gütersloh hatte dort von 2010 bis 2016 gearbeitet und gesehen, wie Kinder von digitalen Lernprogrammen profitieren können. Er erzählt von Schulbesuchen in Brennpunktschulen, zum Beispiel in Oakland, wo massenhaft ausgebildete Mathematiklehrer fehlen. Viele dieser Schulen nutzen in der Not die Software Teach to One, die künstliche Intelligenz (KI) einsetzt. Fachfremde Lehrkräfte schauen sich an, was das System den einzelnen Kindern vorschlägt, und greifen nur ein, wenn zum Beispiel Konflikte in der Klasse entstehen oder wenn ein Kind Probleme hat. Laut dem Center for Technology and School Change der Columbia University haben die Kinder, die die Software genutzt haben, in einem Jahr 20 Prozent mehr dazugelernt als der Durchschnitt des Jahrgangs.

Und das ohne Mathelehrer. Mit Fachlehrerinnen können solche Anwendungen also weit mehr sein als Notlösungen. Sogar für die Sprachbildung gebe es KI-Systeme, sagt Fugmann. Sie testen zunächst das Können und schlagen dann individuelle Lernwege vor. Sie melden den Lehrern, wo sie eingreifen, und den Schülern, was sie noch üben müssen, oder wo sie sich Neues zutrauen sollten.  

Zeit sparen und das Lernen modernisieren

In Deutschland ist der Lehrermangel zu einem dramatischen Problem geworden und gleichzeitig sinken die Leistungen der Schüler und Schülerinnen. Die Digitalisierung kann diese enormen Probleme allein nicht beheben. Aber Lehrerinnen und Lehrer könnten Zeit sparen beim Korrigieren von Tests, bei der Vorbereitung von Unterricht oder Übungen. Zeit, die sie für einen intensiven Austausch mit ihren Schülern und Schülerinnen gewinnen. Viele digitale Anwendungen können zudem dazu beitragen, Schule nachhaltig zu verändern, hin zu mehr Selbstständigkeit, Gerechtigkeit, Kreativität und Teamarbeit. Trotzdem ist künstliche Intelligenz in deutschen Klassenzimmern noch selten und eher zufällig zu finden. Selbst einfachere digitale Lernprogramme werden meist nur dort eingesetzt, wo Lehrkräfte sich selbst dafür begeistern. 

Den einen Grund, warum Deutschland in diesem Bereich so zögerlich ist, gibt es nicht. Es ist vielmehr eine Kombination aus mehreren Ursachen. Natürlich fehlen immer noch Geräte für Schüler und Lehrerinnen – und Menschen, die Laptops und Tablets einrichten. Digitale Angebote von freien Anbietern sind vielfältig, aber kaum durchschaubar für den technischen Laien und entsprechen oft nicht den hohen Anforderungen des deutschen Datenschutzes. Und eine zerfranste föderale Struktur trägt dazu bei, dass Digitalisierung erst einmal sehr viel mehr Arbeit macht als Arbeit erleichtert. Jedes Land, jede Schule muss selbst alles allein erfinden, beantragen, lernen und einrichten. Selbst der Datenschutz ist nicht in allen Bundesländern gleich geregelt.  

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission hatte deshalb in einem Gutachten gefordert, wissenschaftlich überprüfte Lernmaterialien zentral zu entwickeln und allen zur Verfügung zu stellen. Außerdem sollten alle Pädagogen und Pädagoginnen aus- und fortgebildet werden. 

Hinzu kommt jedoch die große Skepsis vieler Lehrkräfte, die bis vor Corona eher auf die Gefahren der Digitalisierung fokussierten als auf die Chancen. Weshalb sich nach den Schulschließungen einige Schulen zu Kreide und Buch zurückwünschten. Viele haben die Vorteile, die ihnen gute Lernsysteme bieten könnten, noch gar nicht kennengelernt. Oft würden sie die wenig attraktiven Lösungen für den Corona-Fernunterricht – also zum Beispiel den Frontalunterricht über eine Videokonferenz – mit pädagogisch wertvollem Digitalunterricht verwechseln, erklärt etwa die Bildungsforscherin Birgit Eickelmann von der Universität Paderborn.

Manchmal steckt hinter der Skepsis auch die alte Angst, die schon seit den Siebzigerjahren umgeht: Lehrkräfte würden dauerhaft durch Maschinen ersetzt. Dabei hatten Lehrer, Eltern und Schülerinnen doch gerade während der Schulschließungen deutlich gespürt, wie wichtig die echten Kontakte zwischen den Kindern, aber auch zu ihren Lehrern und Erziehern sind – nicht nur für die psychische Gesundheit, sondern auch, weil Lernen ohne Beziehungen nicht funktioniert.