Wie viel Digitalisierung darf es an der Schule sein? Woran liegt es, dass der Prozess so langsam voranschreitet: zu wenig Geld oder doch zu wenig Lust auf die Veränderung? Gerade sieht es auf jeden Fall so aus, als ob viele Politiker den Präsenzunterricht so unterstützen, um sich Versäumnisse bei der Digitalisierung nicht einzugestehen.

Kenza Ait Si Abbou ist Ingenieurin bei der Telekom und Autorin des Buches "Keine Panik, ist nur Technik". Motiviert wurde sie zu dem Thema, als sie merkte, wie wenig und ungern sich manche Menschen mit Themen wie Coding oder künstlicher Intelligenz beschäftigen. Auch für den Bereich Schule hat sie das beobachtet. "Wenn wir nicht bald etwas unternehmen", sagt sie "sind, wenn unsere Kinder ihren Schulabschluss machen, die Roboter schlauer als sie."

ZEIT ONLINE: Ihre These ist, dass viele Menschen davor zurückschrecken, sich mit Digitalisierung zu beschäftigen. Könnte diese Scheu auch ein Grund dafür sein, dass viele Politiker gerade so am Präsenzunterricht festhalten?

Kenza Ait Si Abbou: Nein. Wir haben ja im ersten Lockdown gesehen, dass remote learning überhaupt nicht funktioniert, weil wir die Voraussetzungen dafür nicht haben an den Schulen. Daran hat sich bis heute nicht besonders viel geändert. Aber mangelnde Infrastruktur ist nicht das Hauptproblem, sondern vielmehr, dass Homeschooling nicht funktioniert in Kombination mit Homeoffice. Das führte nur dazu, dass im allermeisten Falle die Mütter ihre Arbeitszeit reduziert haben oder sich überarbeitet haben. Um die Eltern und die Wirtschaft nicht noch weiter zu belasten, lässt man jetzt die Schulen offen. Und natürlich auch, weil für die Kinder die Interaktion mit ihren Freunden notwendig für eine gesunde Entwicklung ist.

Kenza Ait Si Abbou ist Senior Manager Robotics and Artificial Intelligence. Mit ihrem Team baut sie die künstliche Intelligenz für den Telekom-Konzern. Geboren und aufgewachsen ist sie in Marokko, studiert und gearbeitet hat sie in Spanien, Deutschland und China. Das Magazin "Capital" kürte sie zur Jungen Elite 40 unter 40. Gerade ist ihr neues Buch "Keine Panik, ist nur Technik" (Gräfe und Unzer) erschienen. © privat

ZEIT ONLINE: In den Schulen herrscht aber dennoch Unsicherheit, weil eben doch ständig ganze Klassen in Quarantäne müssen und der Stand der Digitalisierung recht nebulös ist.

Ait Si Abbou: Das ist aber auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Selbst wenn wir eine perfekt ausgerüstete Schule mit Schulcloud und digital fitten Lehrern haben, ist eben nicht sichergestellt, dass der einzelne Schüler zu Hause auch wirklich eine Situation hat, in der Homeschooling funktionieren kann. Hat er einen Ort, an dem er arbeiten kann, ein Endgerät, muss er auf kleine Geschwister aufpassen?

ZEIT ONLINE: Auch bei den Lehrern gibt es einige, die sich – vielleicht ja auch zu Recht – gegen die Veränderung sperren.

Ait Si Abbou: Wir Menschen haben immer Angst vor neuen Dingen. In einer so unsicheren Situation, wie wir sie gerade erleben, ist die Abwehr gegen etwas Neues noch mal stärker. Die Lehrerinnen und Lehrer wurden nicht ausgebildet fürs remote learning. Diese Art des Lernens aber erfordert eine ganz neue Rolle des Pädagogen. Er ist nicht mehr derjenige, der das Wissen hat und es vermittelt. Eine Digitalisierung des Unterrichts bedeutet für Pädagogen also erst mal Kontrollverlust.

ZEIT ONLINE: Aber dem Lehrer bleiben die Kompetenzen, die er vermitteln kann. Damit bleibt er eine Autorität.

Ait Si Abbou: Nicht mehr in dem Sinne, wie er es gewohnt war. Das Wissen hat jetzt Google. Und das ist den Kindern klar. Schauen Sie sich meinen Sohn an, der ist fünf. Wenn er mich etwas fragt und ich es nicht beantworten kann, sagt er: Mama, frag doch dein iPad. Wenn er nächstes Jahr in die Schule kommt und die Lehrerin ihm sagt, ich habe das Wissen, wird er ihr nicht glauben.

ZEIT ONLINE: Vielleicht hat er ja eine digital affine Lehrerin.

Ait Si Abbou: Ein Grund, warum viele Lehrer diesen Beruf gewählt haben, ist doch, weil sie Freude daran haben, Kindern Wissen zu vermitteln. Aber heute ist das Wissen demokratischer geworden. Wir müssen den Kindern also beibringen, wie man das Wissen zusammenstellt. Aber dafür sind viele der alten Lehrer nicht offen. Und die jungen Lehrer können sich in einem so hierarchischen System wie Schule nicht so schnell durchsetzen.

ZEIT ONLINE: Glauben Sie wirklich, dass es eine Frage des Alters ist?

Ait Si Abbou: Nicht zwingend, aber um einen einflussreichen Status in der Schule zu erreichen, braucht man erst mal ein paar Jahre Erfahrung. Deswegen verändert sich das System von innen so langsam. Druck von außen ist auch schwierig. Jede Veränderung braucht sehr viel Zeit. Die Konsequenzen sind fatal: Wir bilden eine ganze Generation Kinder aus, die wir auf eine Arbeitswelt von gestern vorbereiten.

ZEIT ONLINE: Warum gibt es dafür kein Problembewusstsein?

Ait Si Abbou: Man löst meistens Probleme, die schon da sind. Aber dieses Problem ist eines in der Zukunft. Das wird erst in zehn, fünfzehn Jahren offensichtlich, wenn diese Kinder in den veränderten Arbeitsmarkt drängen. Dann werden wir sagen: Ach du Schande, die Chinesen haben uns überholt.

ZEIT ONLINE: Sie meinen also, die Ministerpräsidenten handeln so zögerlich, weil es kein aktuelles Problem ihrer Wähler ist?