"Menschen wollen beides: billiges Benzin und Klimaschutz" – Seite 1

DIE ZEIT: Herr Fisher, die neuesten Daten des People’s Climate Vote zeigen, dass fast 30 Prozent der Europäer täglich über den Klimawandel nachdenken. Das wirkt übertrieben.

Stephen Fisher: Ist aber das repräsentative Ergebnis. Ich gebe zu, auch ich hätte nicht erwartet, dass der Anteil so hoch ist. Aber natürlich ist das Thema regelmäßig in den Nachrichten, die Leute reden dauernd übers Wetter. Und der Klimawandel beeinflusst das Leben der Menschen, ihre Energiepreise, ihre Lebensentscheidungen und, wenn sie es sehr ernst nehmen, sogar, was sie essen.

ZEIT: Trotzdem verliert das Klima in der Öffentlichkeit an Bedeutung. Wie kann das sein?

Fisher: Tatsächlich hat sich die Art verändert, wie über den Klimawandel geredet wird. Vor fünf Jahren herrschten in Europa eine positive Energie und großer Enthusiasmus, Klimasorgen zu äußern und die Regierungen zum Handeln aufzufordern. Ein Großteil der Öffentlichkeit hat mit diesen Aufrufen sympathisiert, die Unterstützung für grüne Parteien stieg, viele Parlamente haben den Klimanotstand ausgerufen. Doch dann kam die Corona-Pandemie, Staaten gerieten in finanzielle Schwierigkeiten, die Schulden stiegen und auch die Inflation. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind die Energiepreise explodiert. Für viele Menschen ist das Leben seitdem schwieriger geworden. Und all diese Schwierigkeiten konkurrieren mit dem Klima nicht nur um öffentliche Aufmerksamkeit, sondern auch um die Bemühungen der Politik.

ZEIT: Dort wird neuerdings viel geschwiegen zum Thema. Ist den Menschen das Klima also egal geworden?

Fisher: Nein, den Menschen ist das Klima sehr wichtig, das zeigen die Daten der UN-Studie eindrücklich. Und die Sorgen vor den Auswirkungen einer wärmeren Welt nehmen zu. In Europa und rund um die Erde gibt es große Mehrheiten für einen schnellen Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energien. Die Leute wollen, dass ihre Regierungen sich mehr anstrengen und international stärker zusammenarbeiten. Aber im täglichen Leben sind die Menschen eben auch mit anderen Dingen beschäftigt.

ZEIT: Wenn das Klima nach wie vor so eine große Rolle spielt – wie sind dann die Ergebnisse der Europawahlen zu erklären? Die Grünen haben dabei massiv an Stimmen verloren, die Kommissionspräsidentin hat die Umwelt kaum noch erwähnt.

Fisher: Ja, die grüne Fraktion im EU-Parlament hat sich von 74 auf 54 Sitze verkleinert. Aber dieser Rückgang liegt fast nur an Deutschland und Frankreich. In Frankreich wurde stark um die Stimmen links-grüner Wähler gerungen, und in Deutschland waren die Grünen 2019 noch Oppositionspartei, dieses Mal sind sie für Regierungsprobleme abgestraft worden. Das heißt aber nicht, dass die Wähler plötzlich gegen den Green Deal der EU sind. In den Niederlanden wurde das links-grüne Bündnis stärkste Kraft, in Italien konnten die Grünen Sitze hinzugewinnen.

ZEIT: Zum Green Deal gehören auch strengere Vorschriften für die Landwirtschaft. Nach den Bauernprotesten im Frühjahr, als Tausende Trecker über die Straßen rollten, wurden Teile dieser Auflagen zurückgenommen. Da entstand der Eindruck: Wer nur laut genug hupt, muss nicht mitmachen.

"Die ideale Lösung wäre, saubere Energie günstig bereitzustellen"

Fisher: Moment! Nur weil Bauern besorgt sind, wie sie ihren Hof mit strengen Pestizidvorschriften weiterführen können, heißt das nicht, dass ihnen das Klima egal ist. Tatsächlich leiden sie besonders unter Dürre und Überschwemmungen, weil es den Anbau erschwert und im schlimmsten Fall die Ernte zerstört. Von grüner Energie hingegen können Bauern stark profitieren. In Italien protestieren Landwirte jetzt gegen die Regierung, weil Georgia Meloni es erschwert, Solarflächen auf Äckern zu installieren.

ZEIT: Laut Ihrer Studie sagen 93 Prozent der Italiener, dass sie von ihrer Regierung stärkere Verpflichtungen zum Klimaschutz wollen – ein Rekordwert unter den Industriestaaten. Trotzdem haben sie eine rechtsextreme Partei gewählt, die fossile Energieprojekte unterstützt. Wie geht das zusammen?

Fisher: Nur weil man von linker Politik enttäuscht ist und hofft, dass die Rechte bessere Antworten auf diverse Probleme findet, ist man nicht automatisch gegen Klimaschutz.

ZEIT: Wäre es dann nicht logisch, wenn populistische Parteien das Thema für sich nutzen, statt es zum Hassobjekt zu machen?

Fisher: Da ist viel in Bewegung. Vor zehn Jahren haben noch viele rechte Stimmen den Klimawandel geleugnet oder jedenfalls den menschlichen Einfluss angezweifelt. Heute ist davon nicht mehr viel übrig, weil die Wähler die Erwärmung wahrnehmen und als Problem erkennen. Inzwischen geht es Populisten mehr darum, einzelne Gesetze infrage zu stellen.

ZEIT: Werden wir also demnächst erleben, dass sich Populisten für mehr Wind- und Sonnenenergie einsetzen?

Fisher: Schwer zu sagen. Die Zahlen zeigen, dass es in fast jedem Land der Welt eine enorme Unterstützung für Klimaschutzmaßnahmen gibt. Es ist wirklich erstaunlich. Trotzdem scheinen viele Politiker zu denken, die Unterstützung sei höchstens lauwarm. Sie haben Angst vor Protesten, wenn beispielsweise das Tanken teurer wird. Aber natürlich ist es absolut verständlich, Menschen wollen beides: billiges Benzin und Klimaschutz. Die ideale Lösung wäre, saubere Energie günstig bereitzustellen.

ZEIT: Ohne dass Tanken teurer wird, wird es aber nicht gehen.

Fisher: Das ist ein schwieriger Balanceakt. Als Politiker kannst du es dir nicht leisten, plötzlich sehr strenge Regeln einzuführen. Dann verlierst du die Macht, und deine Regeln treten nie in Kraft. Wie sehr so etwas schiefgehen kann, hat man bei der deutschen Debatte ums Heizungsgesetz gesehen. Klimaschutz darf Menschen nicht Probleme schaffen, die sie sonst nie hätten, und vor allem ärmere Menschen nicht zu den Verlierern machen. Ich sage nicht, dass man alles so lösen kann, dass alle glücklich sind. Aber es muss zumindest fair zugehen.

ZEIT: Also müssen wir darüber nachdenken, wie wir Klimaschutz gerecht finanzieren?

"Politik sollte das Bild immer wieder geraderücken"

Fisher: Ja, viel dreht sich ums Geld, weil die Vorteile langfristig wirken, die Kosten aber unmittelbar anfallen. In Norwegen hat der Staat dafür gesorgt, dass die Nutzung von E-Autos nicht nur die einfachste, sondern auch die günstigste Alternative ist. Inzwischen liegt der Anteil bei den Neuzulassungen bei über 90 Prozent.

ZEIT: Die deutsche Debatte um die Wärmepumpen hat viele Menschen verärgert. Sorgt gute Politik andersherum dafür, dass die Unterstützung für Klimaschutz steigt?

Fisher: Es fällt auf, wie wenig Menschen über positive Beispiele und Erfolge wissen. Die Menschheit hat ein Ozonloch geschlossen und wichtige Beschlüsse zur Reduzierung von saurem Regen gefasst – und heute haben das viele vergessen. Wie auch sonst im Leben merken wir uns eher, wenn Dinge schiefgehen. Politik sollte das Bild immer wieder geraderücken.

ZEIT: Trotzdem bleibt der Eindruck, dass die Klimastimmung in Europa gekippt ist.

Fisher: Es gibt eine besorgniserregende Entwicklung. Debatten und Meinungsverschiedenheiten über Gesetzesvorschläge drehen sich zunehmend nicht mehr nur um die Sache, also zum Beispiel ob man ein Verbot von Gaskesseln will. Stattdessen wird alles schnell zu einer Frage von Identität. Menschen sehen sich zunehmend als Teil einer Gruppe und grenzen sich gegen andere Gruppen ab. Je mehr sich Gesellschaften in zwei Lager aufteilen, desto mehr wird Klimaschutz nur dem linken Lager zugeteilt. Das ist ein großes Problem, weil damit die Chance auf Konsens schwindet.

ZEIT: Und wie kommen wir da wieder raus?

Fisher: Es gibt Dinge, auf die sich alle Parteien einigen können: ein gutes Maß an Wachstum, niedrige Inflation und geringe Arbeitslosigkeit. Da geht es nur ums Wie. Das müssen wir auch für den Klimaschutz wieder erreichen. Teil dieses Prozesses besteht darin, grüne Energie als Frage von Sicherheit und Wohlstand zu betrachten und nicht nur abstrakt als Beitrag zum Erdklima. Energiesicherheit ist gut für jeden, niedrige Energiepreise sind gut für jeden, und beides spricht dafür, erneuerbare Energien auszubauen, statt fossile Brennstoffe zu importieren. Die britische Labour-Partei etwa argumentiert mittlerweile für grüne Energie fast ausschließlich mit Kosten- und Sicherheitsvorteilen.

ZEIT: Dann wird ja noch weniger über Klima gesprochen als jetzt gerade ...

Fisher: ... was etwas Gutes haben kann. Bei den britischen Wahlen diese Woche herrscht eine Art Grundkonsens, auch wenn die Konservativen mal davon sprechen, die grüne Wende verlangsamen zu wollen. Tatsächlich sind die britischen CO₂-Emissionen in den 14 Jahren unter konservativer Regierung immer weiter gesunken. Und wenn Klimagesetze erst einmal verabschiedet sind, wirken sie meistens ohne neue Beschlüsse. Selbst für den Fall, dass Donald Trump die Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnt, scheint es möglich, dass ihm die Aufhebung des Inflation Reduction Act nicht gelingen wird. Und er somit weiterhin massiv saubere Energie fördert.