Kürzlich wurde in der New York Times festgestellt, dass wir im goldenen Zeitalter biografisch inspirierter Texte von insbesondere Frauen leben, und da fällt einem natürlich sofort Leslie Jamison ein. Bekannt wurde sie mit Die Empathie-Tests (2017), einer Essaysammlung, die in Amerika als moderner Klassiker gilt und in der sich Jamison auf eben ihre jamisonhafte, Gefühle mit einer extremen Genauigkeit analysierenden Weise ihren Themen nähert (die Bedingungen weiblichen Existierens, Mitgefühl, Alkoholsucht).

Wenn Jamison sich etwas nähert, dann bedeutet das auch, dass sie sich schreibend sich selbst nähert und von dort aus wieder zurück zu ihrem Thema gelangt, in Kreisbewegungen, die sie mit ihrer klaren Sprache in eine literarische Form bringt; häufig, indem sie journalistische Recherchen mit Autofiktion mischt. Das Ergebnis wird regelmäßig anerkennend und etwas ratlos als "schonungslos" beschrieben, was ein bisschen nach einem Orden klingt, der Künstlerinnen verliehen wird, die sich heldenhaft opfern, aber dazu später.

Ein paar Essays und Romane nach den Empathie-Tests jedenfalls hat Jamison jetzt ihr erstes reines Memoir veröffentlicht: Splitter. Das Buch ist vielleicht ein bisschen zu lang, dafür aber sehr gut. Jamison beschreibt darin, wie sie Mutter wird, wie ihre Ehe zerbricht und wie sie schließlich mit ihrer kleinen Tochter eine Pandemie durchlebt. Das Kind (und später Corona) minimiert ihren Radius, es geht um Nahrungsaufnahme und Schlafen, um überlebenswichtige Dinge also. Meistens ist Jamison, die an einer Stelle schreibt, dass sie als Schriftstellerin auf die Reaktionen ihres Publikums angewiesen ist, allein: Wenn sie das Baby versorgt, ist es während dieser Zeit ihr einziger Zeuge. Der Vater des Kindes fühlt sich ausgeschlossen. Die Liebe zu ihm lässt Jamison erst vor den Leseraugen explodieren, dann grausam ersticken, und das ist natürlich eine sehr alte Geschichte. Aber sie erzählt sie so gut, dass man traurig wird, weil man sich daran erinnert, dass alle getrennten Leute irgendwann mit den besten Hoffnungen angefangen haben, bis sie gemeinsam über ihre Herkunft stolperten und alles in Scherben liegt.

Jamison schaut sich schreibend zu bei der eigenen Fragmentierung (Mutter, Schriftstellerin, Ehefrau, Ex-Ehefrau, Geliebte) und dem Versuch, sich selbst irgendwie zu etwas Ganzem zusammenzusetzen. Damit sind Menschen ja im Allgemeinen oft befasst, aber nicht alle sind wie Jamison Schriftstellerin, deren Memoir auch eine ständige Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Entstehens und Betrachtens von Kunst ist. Im Zentrum ihrer eigenen Kunst stehen bei Splitter nun sehr alltägliche Vorgänge (Stillen, Ehekrise, Working-Mum-Probleme), und es ist interessant, wie häufig die Frage nach der Literaturfähigkeit dieser Themen bei der Rezeption von Jamisons Memoir im Subtext auftauchte: Warum musste es denn gleich ein ganzes Buch sein, fragte zum Beispiel die Washington Post.

Vielleicht ist die erwähnte Schonungslosigkeit ja das Eintrittsgeld für die Teilnahme am goldenen Zeitalter der Autorinnen autofiktionaler Texte, die ja schließlich irgendwas leisten müssen, wenn sie sich schon nichts mehr ausdenken, wie die echten Schriftsteller früher (Zwinker-Smiley).

Leslie Jamison: Splitter. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz; Claassen Verlag, Berlin 2024; 304 S., 23,– €, als E-Book 18,99 €