Wie gefährlich könnte ein gestörtes deutsch-französisches Verhältnis für Europa werden?

Ein Gespräch mit dem ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten und EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi

DIE ZEIT: Herr Prodi, wie beurteilen Sie den Sieg der Rechten bei der Europawahl?

Romano Prodi: Die Rechte hat Stimmen gewonnen, wie vorausgesagt. Doch die Zahl ihrer Abgeordneten im Europarlament ist nicht viel größer geworden. Die Mitte hat nach wie vor die Mehrheit. Wir müssen jetzt sehen, wie kompakt die Mitte sein wird. Das wahre Problem ist der politische Sturm in Deutschland und in Frankreich. Die beiden Länder waren immer der Motor der Europäischen Union. Macron sucht durch die Neuwahlen eine Revanche für seine Niederlage bei den Europawahlen. Wir wissen nicht, ob sein Kalkül aufgehen wird. Es könnte also sein, dass in naher Zukunft Frankreich und Deutschland zwei gegensätzlichen politischen Lagern angehören werden. Das hat es in der Geschichte noch nie gegeben. Selbst als in Deutschland der Christdemokrat Helmut Kohl und in Frankreich der Sozialist François Mitterrand regierten, gab es einen Konsens über die Notwendigkeit einer Vertiefung der Europäischen Union. Man traf umfassende und tiefgreifende Abkommen. Bald aber könnte es zwischen Frankreich und Deutschland fundamentale Differenzen geben, die das nicht mehr möglich machen. Wenn ich ein Auto habe, brauche ich immer einen Reservereifen. Also muss man jetzt darüber nachdenken, wie dieses Europa aussehen kann, sollte es zu einer tiefen Entfremdung zwischen Frankreich und Deutschland kommen.

ZEIT: Könnte diese mögliche Entfremdung die gesamte Europäische Union gefährden?

Prodi: Nein, denn die nicht autoritären Regierungen im Europäischen Rat haben weiterhin eine Mehrheit. Macron ist eine Wette eingegangen, er könnte sie auch gewinnen.

ZEIT: Selbst wenn Macron gewinnt, wird der Rechtsruck in den europäischen Staaten doch zu einer Schwächung Europas führen?

Prodi: Mal ehrlich: Während der Pandemie war Europa noch einig. Danach sind die europäischen Staaten getrennt marschiert. Denken Sie nur daran, wie unterschiedlich Scholz und Macron bei ihren Besuchen in Peking aufgetreten sind! Da kann man nicht sagen, dass Europa geschlossen ist. Man muss jetzt sehen, wie sich die Mehrheiten im Parlament und im Rat bilden lassen können.


Die Fragen stellte Ulrich Ladurner.


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Wie unsicher ist die Wiederwahl von Ursula von der Leyen? Und hat Mario Draghi plötzlich Chancen?

Ursula von der Leyen benötigt 362 Stimmen, um im EU-Parlament erneut zur Kommissionspräsidentin gewählt zu werden. Auf dem Papier verfügt sie locker über diese Mehrheit. Denn ihre EVP hat 186 Abgeordnete, die Sozialdemokraten haben 137, und die Liberale Fraktion (Renew) hat 79. Es ist wahrscheinlich, dass die Fraktionen zusammenarbeiten werden. Insgesamt 402 Stimmen – würde reichen. Aber: Im Europaparlament existiert kein Fraktionszwang. Man kann damit rechnen, dass 10 bis 15 Prozent der Abgeordneten "abweichen". Sollte sich Ursula von der Leyen nur auf die drei Fraktionen stützen, bewegte sie sich auf dünnem Eis. 2019 verfügte sie theoretisch über eine noch größere Mehrheit, holte schließlich aber nur neun Stimmen mehr als nötig. Sollten die Grünen – 52 Abgeordnete – von der Leyen stützen, dürfte ihre Wiederwahl sicher sein. Aber die Grünen stellen Bedingungen, sie wollen den sogenannten Green Deal – ein gigantisches Programm mit dem Ziel, die EU bis 2050 klimaneutral zu machen – wieder stärken. Von der Leyens EVP hat den Green Deal in den Monaten vor der Wahl ausgehöhlt – und wird das wohl auch fortsetzen. Eine Zusammenarbeit wird also schwierig. Für von der Leyen ebenfalls kompliziert ist eine Bedingung, die die Sozialdemokraten für ihre Unterstützung stellen: Die Kommissionspräsidentin soll keinesfalls mit Rechtsaußen zusammenarbeiten.

Doch noch vor der Abstimmung im Parlament muss von der Leyen vom Europäischen Rat nominiert werden. Die 27 Staats- und Regierungschefs haben nach den europäischen Verträgen das Vorschlagsrecht. Als möglicher Kommissionspräsident statt der Deutschen wurde zuletzt immer wieder Mario Draghi genannt. Der ehemalige Präsident der EZB ist in Europa hoch angesehen. Das Problem allerdings ist, dass Draghi keiner Partei angehört. Die EVP erhebt als Wahlsiegerin Anspruch auf das Amt des Kommissionspräsidenten, die zweitplatzierten Sozialdemokraten dürften die Ratsvorsitzenden besetzen, die drittplatzierten Liberalen das Amt des Außenbeauftragten. Für Draghi ist nach dieser Logik kein Platz.

Ulrich Ladurner


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Ist die Ukraine-Hilfe in Gefahr?

Der Krieg in der Ukraine war ein wichtiges Thema im Europa-Wahlkampf, in Deutschland und vor allem in den östlichen EU-Ländern. Dabei spielt die Europäische Union für die militärische Unterstützung des Landes nur mittelbar eine Rolle. Ob und welche Waffen es an die Ukraine liefert, entscheidet jedes Mitgliedsland für sich. Das Ergebnis der Europawahl hat hierauf keinen Einfluss.

Anders ist es bei den Finanzhilfen. Die EU hat Kiew seit dem russischen Angriff vor zwei Jahren aus dem gemeinsamen Budget rund 35 Milliarden Euro überwiesen, vor allem für wirtschaftliche und humanitäre Hilfe. Ein kleiner Teil davon kommt mittelbar auch der ukrainischen Armee zugute. Damit ist die Union der größte Geldgeber des angegriffenen Landes, noch vor den USA.

Über den EU-Haushalt und dessen Verwendung entscheidet auch das Europaparlament. Dort waren die Finanzhilfen für die Ukraine bislang kaum umstritten. So hat die EU vor der Wahl beschlossen, der Ukraine in den kommenden vier Jahren weitere 50 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen, unter anderem für den Wiederaufbau. Mehr als 500 Abgeordnete unterstützten die Entscheidung, 45 stimmten dagegen. Schwieriger war die Diskussion im Rat, wo die 27 Mitgliedsländer der EU in diesem Fall einstimmig entscheiden müssen. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hatte den Beschluss lange aufhalten können.

Selbst wenn es künftig mehr Neinstimmen geben sollte, wird die finanzielle Unterstützung der Ukraine aber auch im neu gewählten Parlament grundsätzlich von einer großen Mehrheit befürwortet. Heikler könnte die Frage werden, welche geo- und sicherheitspolitischen Konsequenzen die Union aus der Konfrontation mit Russland zieht. Die EU hat der Ukraine nach dem Angriff Moskaus genauso wie Moldau und Georgien die Perspektive auf einen Beitritt eröffnet. Schon im Sommer könnte die EU-Kommission darüber Verhandlungen mit Kiew beginnen.

Der Weg zu einem Beitritt wäre lang, vor allem müsste der Krieg vorher beendet sein. Doch schon jetzt ist eine abermalige Erweiterung der Union in vielen europäischen Ländern umstritten. Der französische Rassemblement National zum Beispiel und die FPÖ in Österreich lehnen eine mögliche Aufnahme der Ukraine rundheraus ab. Die ehemalige polnische Regierungspartei PiS dagegen setzt sich sehr für das Nachbarland ein. Am Ende der Verhandlungen müssten alle Mitgliedsstaaten und das Europarlament, in einigen Ländern sogar die nationalen Parlamente, dem Beitritt der Ukraine zustimmen. Gut möglich, dass eine solche Abstimmung erst nach der nächsten Europawahl in fünf Jahren stattfindet.

Matthias Krupa


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Was würde es für die EU bedeuten, wenn in Frankreich und in Österreich Rechtsextreme regieren?

Besonders gut haben die Nationalisten bei der Europawahl in Frankreich und in Österreich abgeschnitten. In beiden Ländern wird demnächst auch über die nationalen Parlamente abgestimmt. In Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron am Sonntagabend völlig überraschend die Nationalversammlung aufgelöst, schon am 30. Juni und am 7. Juli wird in zwei Runden neu gewählt. Im Herbst entscheiden die Österreicherinnen und Österreicher über ihren neuen Nationalrat. Hier wie dort könnten demnächst extrem rechte Parteien regieren. In Frankreich der Rassemblement National (RN), die Partei Marine Le Pens; in Österreich die FPÖ. Beide haben lange Zeit mit einem Austritt ihrer Länder aus der EU kokettiert.

Für die europäische Politik hätte ein Erfolg dieser beiden Parteien bei den nationalen Wahlen möglicherweise noch größere Folgen als jener bei der Europawahl. Das klingt paradox, ist aber mit dem Aufbau der EU zu erklären. Im Parlament ist der Einfluss der nationalen Delegationen vergleichsweise gering; in der Runde der Staats- und Regierungschefs und in den Ministerräten sind alle 27 Länder hingegen gleichberechtigt vertreten. Würde die FPÖ in Wien künftig den Kanzler stellen, könnte dieser in Brüssel wichtige Entscheidungen blockieren, ähnlich wie es der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán immer wieder getan hat.

Kompliziert könnte es für die EU mit Frankreich werden. Zwar wird, egal wie die Parlamentswahl ausgeht, Macron Präsident bleiben. Seine Amtszeit endet erst 2027; einen vorzeitigen Rücktritt schließt er aus. Dafür könnte der RN, wenn er die Parlamentswahl gewinnt, künftig die Regierung stellen. Eine sogenannte cohabitation, der Präsident und der RN müssten sich arrangieren. Die außenpolitischen Entscheidungen würde weiterhin der Präsident treffen. Auch würde Macron sein Land unverändert bei europäischen Gipfeln vertreten. Aber in den Ministerräten, in denen das Tagesgeschäft der EU stattfindet, in denen etwa über das europäische Asylrecht oder über Wirtschaftspolitik verhandelt wird, würde Frankreich künftig vom RN vertreten. Marine Le Pen könnte so direkten Einfluss auf die Politik der EU nehmen.

Außerdem hätte der RN, wenn er regiert, durchaus die Möglichkeit, europäische Entscheidungen des Präsidenten zu hintertreiben oder zumindest aufzuhalten. Das könnte etwa für die Ukraine-Politik gelten. Macron hat erst vor wenigen Tagen angekündigt, Frankreich werde Mirage-Kampfflugzeuge an Kiew liefern. Marine Le Pen und ihre Partei sind gegen die militärische Unterstützung der Ukraine. Gewännen sie die Wahl, müsste ein Verteidigungsminister oder eine Ministerin des RN trotzdem die Lieferung von Raketen, Kampfjets oder Munition organisieren.

Matthias Krupa


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Ist die europäische Klimapolitik am Ende? Antwort eines Klimaforschers

"Als Verlierer der Europawahl gelten allen voran die europäischen Grünen. Durch die neuen Mehrheitsverhältnisse könnte der Europäische Green Deal im Parlament an Momentum verlieren. Perspektivisch dürften Verteidigung, Wettbewerbsfähigkeit und grüne Innovation an Bedeutung gewinnen. Aber die europäische Klimapolitik ist damit nicht am Ende.

Im Gravitationszentrum der EU-Politik steht weiterhin die Europäische Volkspartei um Ursula von der Leyen. Europas Sozialdemokraten sind bei der Wahl mit einem blauen Auge davongekommen. Der Green Deal wird sich nicht so einfach rückabwickeln lassen. Dafür ist sein Grundgerüst, bestehend aus EU-Klimagesetz, dem Emissionshandel und der EU-Lastenteilungsverordnung, zu stabil. Die Emissionen könnten im Ergebnis weiter sinken. In den Sektoren unter dem bestehenden ersten EU-Emissionshandel ist der Minderungspfad bereits bis zum Jahr 2039 festgelegt – nämlich auf netto null. Dann wird es keine regulären Emissionsrechte mehr geben und die verbleibenden Restemissionen müssen kompensiert werden.

Wetterextreme, Klimaschäden in Milliardenhöhe und Wasserknappheit werden ihr Übriges beitragen, um den Green Deal in der Prioritätenliste weit oben zu verankern. Die Klimafolgen werden vor allem die Landwirtschaft treffen: Hier braucht es neue Instrumente zur Senkung der Emissionen. Nach dem zweiten EU-Emissionshandel ab 2027 für Verkehr und Gebäude wäre ein dritter für den Agrar- und Lebensmittelbereich sinnvoll. Er könnte nebenbei noch Mittel für die Entlohnung von CO₂-Entnahmen generieren. Neuartige technische Verfahren müssen künftig CO₂ im industriellen Maßstab aus der Luft filtern – sonst wird es nicht gelingen, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine negative Emissionsbilanz zu schaffen und die globale Mitteltemperatur perspektivisch wieder zu senken. Chancen gibt es auch auf internationaler Bühne. Hier ermutigt der Grenzausgleichsmechanismus Europas Handelspartner, sie beim Klimaschutz durch die Einführung der CO₂-Bepreisung zu unterstützen.

Die EU benötigt eine Klimapolitik der großen Linien. Es gibt Grund für vorsichtigen Optimismus. Europas Bürgerinnen und Bürger können weiterhin auf eine stabile Koalition der Mitte hoffen."

Ottmar Edenhofer

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