Die günstigste Variante, um aus dem ostsächsischen Görlitz nach Polen zu kommen, sind die eigenen Füße. Man muss nur eine der Brücken über die Neiße überqueren. Die zweitgünstigste ist das Europastadt-Ticket für 1,90 Euro. Damit kann man mit der Buslinie A ins polnische Zgorzelec fahren. Seit 1998 bilden die beiden Städte die Europastadt Görlitz/Zgorzelec.

Die grenzüberschreitende Linie A und den Europastadt-Tarif, mit dem man die Verkehrsnetze der beiden Städte nutzen kann, gibt es seit vergangenem Jahr. Die Stadtregierung feierte beides groß. Andere sagen: Dass es ein Vierteljahrhundert gedauert hat, zeigt das wahre Tempo, in dem die Stadt zusammenwächst – was nicht der Rasanz in den Absichtserklärungen entspricht.

Auch mir kommen Görlitz und Zgorzelec bisher eher wie zwei freundliche Nachbarn vor als eine gemeinsame Stadt. 2022 habe ich ein Vierteljahr lang in Görlitz gewohnt. Im Mai dieses Jahres bin ich noch mal mit meiner Familie für zwei Monate hergezogen. In Zgorzelec war ich in all dieser Zeit höchstens zehnmal, hauptsächlich, um Piroggen oder Pizza am polnischen Neißeufer zu essen. Görlitzer Freunde sagen, dass auch sie meist nur in die Restaurants oder zum Zigarettenkaufen auf die polnische Seite fahren. Vielleicht hilft ja eine Runde in der grenzüberschreitenden Buslinie, um zu sehen, ob sich Europa in der Europastadt wirklich nur auf billige Zigaretten und Piroggen beschränkt.

An einem Mittwochnachmittag steige ich an der Wendeschleife in der Landeskronsiedlung ganz im Westen der Stadt ein. Familienhäuser, akkurate Buchsbaumhecken und Trampoline ziehen am Busfenster vorbei. An den Laternenpfählen hängen Wahlplakate für die bevorstehenden Kommunal- und Europawahlen. Nicht wenige von ihnen werben für die AfD. "Grenzen schützen", steht da. Oder: "Unser Geld für unsere Leute." Ein Plakat der rechtsextremen Freien Sachsen fordert gar einen "Säxit".

Längst nicht alle in der Europastadt wünschen sich jedenfalls, dass Europa enger zusammenwächst. Bei den letzten Europawahlen im Jahr 2019 wählte fast jeder Dritte in Görlitz die EU-kritische AfD.

Eine Frau mit kurzen grauen Haaren setzt sich im Bus neben mich. Wie oft sie nach Polen fahre, frage ich. "Nie", sagt sie. Bekannte würden mal zum Haareschneiden hingehen. "Ich selbst brauche da nichts."

Ich habe mich strategisch neben dem Fahrscheinautomaten im Bus gesetzt, um zu sehen, wer das Europastadt-Ticket kauft. Erst nach acht Haltestellen habe ich Glück. Marina, 29, fährt nach Zgorzelec, um Nikotinspender für ihren Tabakerhitzer zu kaufen. Manchmal, erzählt Marina, gehe sie aber auch zum Spazieren auf die polnische Seite oder ins dortige Kulturhaus. Zur EU sagt sie: "Es wäre unvorstellbar, wenn es wieder Grenzen gäbe." Und: "Ohne die polnischen Bürger stirbt Görlitz doch aus."

Der Bus schaukelt inzwischen durch die Innenstadt West. Als in den Neunzigern die Betriebe und die Tagebaue schlossen, verlor Görlitz zwischenzeitlich fast ein Drittel der Einwohner. Seit 2013 wächst die Stadt wieder leicht. Einer der Hauptgründe dafür: der polnische Zuzug. Von den 57.300 Einwohnern in Görlitz hatten Ende vergangenen Jahres 5.150 die polnische Staatsbürgerschaft. In Zgorzelec mit seinen 30.000 Einwohnern wohnen allerdings nur 50 Deutsche.

Je weiter sich der Bus dem historischen Zentrum von Görlitz nähert, desto mehr sieht die Stadt aus wie ein Postkartenmotiv. Eine Gruppe Teenager steigt ein, Frauen mit Einkaufstaschen, Touristinnen in Klettverschlusssandalen. An der Hochschule, der letzten Station vor der Neiße, leert sich der Bus. Außer Marina und mir fahren nur zwei weitere Passagiere über die Stadtbrücke nach Polen.