Wenn es um den theoretischen Idealzustand der großen Straßen geht, scheint in Deutschland alles genauestens durchdacht. Im sogenannten Bundesverkehrswegeplan notieren die Beamten alle zehn Jahre ganz genau, wo neue Bundesstraßen asphaltiert und Autobahnen verbreitert werden müssten, damit der Verkehr möglichst ruhig und zügig fließt.

Sie notieren dazu, wie viel jedes Vorhaben wohl kosten werde – und wie sehr sich diese Investitionen unterm Strich volkswirtschaftlich lohnen. Im aktuellen Plan, übrigens auch als praktisch-übersichtliche Wandkarte erhältlich, stehen mehr als 1.300 Abschnitte in ganz Deutschland, insgesamt beinahe 6.000 Kilometer komplett neue Straßen und 4.000 Kilometer Erweiterung. Der Bundestag hat die aktuell gültige Aufstellung im Jahr 2016 abgesegnet, 269,6 Milliarden Euro sollen demnach bis zum Jahr 2030 verbaut werden.

Doch immer lauter werden die Zweifel, ob die Zahlen in diesem Plan so überhaupt stimmen. Ob Kosten und Nutzen wirklich im Verhältnis stehen? Die Umweltschutzorganisationen Greenpeace und Transport&Environment (T&E) haben die Vorhaben nachgerechnet, mit aktuellen Preisen, und kommen zu einem anderen Schluss: Mindestens 665 Fernstraßenprojekte mit einem skizzierten Gesamtvolumen von 96,5 Milliarden Euro seien nicht sinnvoll, weil sie bei realistischer Betrachtung viel teurer würden als im Plan hinterlegt. Gestrichen werden müssten, laut Studie, unter anderem die Verbreiterung der A40 bei Dortmund oder die Bundesstraße B10 bei Landau in der Pfalz.

Bereits vor einigen Wochen stellten die beiden Naturschutzverbände BUND und Nabu eine Analyse vor, die vom Tenor ähnlich ist: Kosten für den Bau seien unterschätzt worden ebenso wie immer deutlicher berechenbare Folgen für die Umwelt. Allein für die ganz konkret beschlossenen Projekte liege der Finanzbedarf zwischen 39 und 54 Milliarden Euro höher als im Verkehrswegeplan vorgesehen.

Auch die Bundesregierung ist der Ansicht, dass die Analysen überarbeitet werden sollten. Im Koalitionsvertrag haben die Ampelparteien jedenfalls festgehalten, dass sie "auf Basis neuer Kriterien" einen neuen Bundesverkehrswegeplan vorlegen wollen. Der Haushaltsausschuss des Bundestages forderte das zuständige Verkehrsministerium letzthin auf, bis Ende des laufenden Jahres eine aktualisierte Nutzen-Kosten-Berechnung vorzulegen. Einer Sprecherin des Ministeriums zufolge würden derzeit im Rahmen eines Forschungsprojektes tatsächlich die "Kosten- und Wertansätze" überarbeitet, auch unter Berücksichtigung von Umwelteinwirkungen. Noch ist allerdings alles beim Alten, das wichtigste Kriterium für den Bau von Fernstraßen ist damit weiterhin: Wie viele Güter und Menschen könnten nach einer Baumaßnahme schneller vorankommen?

Zwei Drittel der Projekte rechnen sich nicht

Die externen Studien geben nun Hinweise darauf, wie eine moderne Berechnung aussehen könnte – und welche Folgen die hätte. Die Experten des Thinktanks Transport & Environment (T&E) fokussieren in der von Greenpeace beauftragten Studie auf den negativen Nutzen, den sie in Kosten umschlagen. Neue Straßen bringen nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile. Sie benötigen zum einen Fläche, Asphalt und Beton. Womöglich müssen für den Bau Wälder gerodet oder Sümpfe trockengelegt werden. Zum anderen hat sich oft gezeigt, dass zusätzliche Straßen auch zusätzlichen Verkehr verursachen.

Das ist auch gar nicht strittig, ebenso wenig wie die Tatsache, dass dadurch mehr Kohlendioxidemissionen entstehen: Das Bundesverkehrsministerium rechnet das auch in den Plan ein. Allerdings setzt es für das CO₂ einen Preis an, der nach Ansicht von Greenpeace veraltet ist. Inzwischen seien die Folgen des Klimawandels besser erforscht. Man dürfe daher nicht mit 145 Euro pro Tonne CO₂ rechnen, sondern müsse 791 Euro ansetzen. Wobei Greenpeace diese Zahl nicht erfunden, sondern sie vom Umweltbundesamt übernommen hat. Die dortigen Beamten beziehen sich mit diesem Wert auf das Jahr 2030, für das auch der aktuelle Bundesverkehrswegeplan ausgelegt ist.

Alles in allem lohnten sich nach Ansicht von Greenpeace daher zwei Drittel der 1.045 untersuchten Bauprojekte nicht, wenn man aktuelle Baukosten, den CO₂-Preis des Umweltbundesamtes und die Berücksichtigung des induzierten Verkehrs mit einberechne. Aufgegeben werden sollten etwa der Weiterbau der Ostseeküsten-Autobahn A20 sowie der A39, die die Lüneburger Heide Richtung Hannover durchschneiden soll, oder der Ausbau der Autobahn A8 zwischen München und Salzburg, den das Ministerium weiterhin für wirtschaftlich hält. Recht erwartbar für einen Umweltverband kommentiert Lena Donat, Verkehrsexpertin von Greenpeace: "Die Asphaltträume von Verkehrsminister Volker Wissing gehören gestoppt."

Aber auch der Verkehrsforscher Reinhard Koettnitz vom Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr an der Technischen Universität Dresden kommt zu einem ähnlichen Schluss: "Die Autoren weisen richtigerweise darauf hin, dass die Planung der Bundesverkehrswege dringend eine Überarbeitung braucht", sagt Koettnitz, der sich auf Bitte der ZEIT die Studie angesehen hat. Die derzeitigen Berechnungen seien mitnichten so detailliert, wie man erwarten könne. Und er verweist auf Umweltfolgen, die selbst in der Greenpeace-Rechnung fehlten, und zwar Lärm und Abgase. Kurzum: "Eine Autobahn komplett neu zu bauen, ist heute nicht mehr zeitgemäß", so Koettnitz. Zumal das Geld aus dem Bundeshaushalt ja nicht einmal ausreiche, um bestehende Straßen und Brücken instand zu halten.