1. Der Strommix des Planeten

Dreißig Prozent des Stroms weltweit stammten im vergangenen Jahr aus erneuerbaren Energieträgern. Das war der eine Rekord, den Analysten des Londoner Thinktanks Ember Anfang Mai in ihrer Studie Global Electricity Review 2024 vermeldeten. Der andere Rekord schien ein böser Zwilling zu sein: Gleichzeitig hätten die Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energieträger einen neuerlichen Höchststand erreicht! Gut + schlecht = null? Embers Fachleute sind optimistischer: "Der Höchststand der Emissionen im Stromsektor von 2023 markiert wahrscheinlich einen Wendepunkt."

Diese Zuversicht fußt auf dem Tempo, mit dem Wind- und Sonnenkraft global wachsen: "Mit dem Rekordzubau von Sonnen- und Windstrom steht eine neue Ära abnehmender fossiler Emissionen unmittelbar bevor." Schon im laufenden Jahr, führt der Leitautor Nicolas Fulghum aus, werde zusätzlicher Grünstrom so viel Strom aus fossilen Quellen ersetzen, dass die Emissionen aus der Elektrizitätserzeugung insgesamt sinken.

Spitze und Trendwende also. Dass beides real ist, dafür spricht: Schon länger flachten die Kurven der Stromemissionen ab, immer billiger wurde der Ausbau von Sonne und Wind. Mehr noch, die hoch entwickelten OECD-Länder haben ihre Spitze ("Peak") bereits 2007 erreicht, seitdem sind dort die Emissionen aus der Stromproduktion um 28 Prozent gefallen. Im Moment aber ist der globale Peak noch eine Prognose, die sich jedoch im Lauf dieses Jahres an harten Zahlen messen lassen wird. Es wäre endlich eine weltweite Klimakurve, die nach unten zeigt.

Welche Bedeutung hat sie? Das versteht, wer sich die Elektrizität ins größere Bild eingebettet vorstellt, vielleicht so wie die kleinste Puppe im Zentrum einer Matroschka: Schicht für Schicht erklärt sich dann die Bedeutung der Wendepunkt-Meldung, und warum sie über die Elektrizität hinaus eine gute Nachricht ist.

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2. Die fossilen Emissionen

Was Kraftwerke bei der Stromerzeugung in die Atmosphäre pusten, zählt zu den fossilen Emissionen. Zu denen tragen auch andere Quellen bei (so entsteht Kohlendioxid in der Industrie, beispielsweise in Stahlwerken). Dieser Ausstoß aus der Verbrennung von Kohle, Öl und Gas ist historisch wie aktuell der wesentliche Treiber der Klimakrise. Weder nichtfossiles CO₂, das in der Land- und Forstwirtschaft freigesetzt wird, noch andere Treibhausgase tragen so viel zur Erderhitzung bei.

Fossile Emissionen sind, um im Bild zu bleiben, die zweite Schicht der Matroschka. Um sie zu mindern, ist der entscheidende Hebel die Elektrifizierung. Ob in Fabriken, im Verkehr oder aber beim Heizen: Das Rezept für Klimaneutralität lautet, Kohle, Öl oder Gas durch fossilfreien Strom zu ersetzen.

Nun decken Wind, Sonne, Wasser und Co. aber, wie die Ember-Studie zeigt, im planetaren Strommix erst knapp ein Drittel des aktuellen Elektrizitätsbedarfs. (In Deutschland waren es 2023 übrigens schon 55 Prozent.) Und dieser Bedarf wird erheblich wachsen, just wegen der Elektrifizierung. Die globale Stromstatistik birgt also auch diese Botschaft: Der Weg in die klimaneutrale Welt von morgen ist ein Wettrennen zwischen anschwellendem Stromhunger und zunehmender Grünstrom-Menge.

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3. Der gesamte Ausstoß der Menschen

Alle Teil- und Untersummen der Treibhausgas-Statistiken ergeben zusammengenommen jenen Wert, der verrät, ob die Menschheit die Klimakrise weiter eskaliert – und das sind die Gesamtemissionen. Bis heute weist ihre Kurve aufwärts. In der Finanzkrise der Nullerjahre und während der Pandemie zeigte sie jeweils Dellen, doch danach wurde wieder mehr ausgestoßen.

Inzwischen stammt jedes zweite Molekül fossilen Treibhausgases, das sich in der Erdatmosphäre befindet, aus dem Zeitraum ab 1989. Im November zuvor war der Weltklimarat gegründet worden. Immerhin hält dessen aktueller Bericht fest, dass sich der Anstieg der Gesamtemissionen seit den 2010ern "verlangsamt" habe. Übrigens dank der Bereiche Energie und Industrie. Der Transportsektor spielt global eine ähnlich unrühmliche Rolle wie in Deutschland. Erreichte auch diese Kurve ihren Peak, es wäre wahrhaft historisch. Beschworen worden ist das schon oft.

Aber jetzt, da der Stromsektor zu zeigen scheint, dass weltweite Wenden machbar sind: Könnte das Minus bei diesen Emissionen auch die Gesamtkurve abwärtsknicken lassen? Die Internationale Energieagentur berichtet, 2023 seien die Gesamtemissionen um 410 Millionen Tonnen gegenüber dem Vorjahr gestiegen. "Im Stromsektor erwarten wir für 2024 im Vergleich zu 2023 eine Abnahme der Emissionen um zwei Prozent", rechnet Ember-Analyst Fulghum vor. "Das würde rund 240 Millionen Tonnen weniger CO₂ entsprechen." Zu wenig also, um schon im laufenden Jahr die Richtung der Weltkurve zu ändern.

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4. Das Kohlendioxid-Level in der Luft

"Das Problematische an den CO₂-Emissionen ist ja, dass sie die Konzentration von CO₂ in der Atmosphäre immer weiter steigern", sagt Glen Peters vom norwegischen Forschungsinstitut Cicero. Dies ist die vierte Schicht im Matroschka-Bild: die Konzentration in der Lufthülle. Sie ist heute mehr als anderthalbmal so hoch wie zu Beginn der Industrialisierung, ein so schneller Anstieg ist erdgeschichtlich einzigartig. Dem kann die Natur nichts entgegensetzen.

Peters hat am IPCC-Bericht mitgeschrieben und gehört zum Global Carbon Project, das eine jährliche Kohlenstoffbilanz des Planeten errechnet. Dafür werden unzählige Kreisläufe auf unterschiedlichen Zeitskalen berücksichtigt und auch natürliche Schwankungen. Weil der Zusammenhang zwischen dieser Varianz und dem pazifischen Klimaphänomen El Niño noch unklar ist, warten die Fachleute gerade gespannt darauf, wie sich der starke El Niño 2023/24 auswirken wird: Als zusätzlicher Treiber des CO₂-Levels?

Die Kurve des Kohlendioxid in der Atmosphäre ist von allen die hartnäckigste. Sie kann ihren Wendepunkt erst dann erreichen, wenn die Menschheit nur noch so viel CO₂ ausstößt, wie sie anderweitig aus der Luft holt. "Netto-Null-Emissionen" nennen Fachleute das, oder einfach: net zero. Zur Orientierung: Aktuell werden jährlich rund 40 Milliarden Tonnen ausgestoßen. Die weltweit größte CO₂-Filteranlage für Direct Air Capture, die gerade auf Island in Betrieb ging, hat eine Kapazität von 36.000 Tonnen pro Jahr. Das ist ein knappes Millionstel.

Falls es aber gelingt, das Ziel zu erreichen: Was geschähe ab dem net zero-Moment? Glen Peters beschreibt einen anfänglichen Knick, gefolgt von einer immer langsamer werdenden Abnahme. Bis das letzte überschüssige CO₂ auf natürlichem Wege die Atmosphäre verließe, müssten Millionen von Jahren verstreichen – so lange, wie es dauert, um es in Gestein zu binden.

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5. Das Resultat: die globale Erwärmung

Der wichtigste Effekt sinkender Gesamtemissionen wäre es, die weitere globale Erwärmung zu verlangsamen – und damit wenigstens das Schlimmste abzuwenden. Also immer weitere Wetterextreme, Schäden, Leid und Verluste. Das gilt zumindest für die Zeitspanne zwischen einem möglichen Wendepunkt und jenem Jahr, in dem die Welt wieder kühler würde. Beispielhaft hat der Weltklimarat modelliert, dass der net zero-Moment spätestens um das Jahr 2050 eintreten müsse, um eine Fifty-fifty-Chance dafür zu haben, dass die Erwärmung unter 1,5 Grad bleibt. Wäre es bis 2070 so weit, könnte wahrscheinlich zumindest noch das Zwei-Grad-Ziel gehalten werden. Man ahnt die Unschärfen, die solchen Berechnungen anhaften.

Wie aber würde es dann weitergehen? Jedenfalls nicht mit einer raschen Rückkehr zu einem vorindustriellen Klima. Eine Welt mit stabilisiertem CO₂-Pegel haben australische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler simuliert, indem sie in verschiedenen Computermodellen die Emissionen auf null stellten und dann für ein Jahrhundert die Klimarechner weiterlaufen ließen. Im Frühjahr berichteten sie ihre Resultate in den Geophysical Research Letters. Immerhin, der Effekt gehe "in den meisten Modellen über die zu erwartenden natürlichen Schwankungen hinaus", schreiben sie. "Die Temperaturveränderungen nach net zero sind klein, aber signifikant." Wie klein? Im Mittel der Modelle sank die weltweite Durchschnittstemperatur binnen 100 Jahren um etwa ein Viertelgrad, über Land stärker als auf See.

Net zero hätte also einen Effekt. Und wie bei den größer werdenden Schichten einer Matroschka führt der Weg dahin entlang immer größerer, ja historischer Wendepunkte.

Weitere Quellen und Links zum Thema finden Sie hier.

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