Leider gibt es nicht so etwas wie den Urmeter in Paris als Eichmaß für die Krisenhaftigkeit der Welt. Sonst könnte man Maß nehmen an der Kubakrise, an Tschernobyl, am 11. September, an der Finanz- oder an der Flüchtlingskrise und diese zu Ukraine- und Gazakrieg, zu Klimawandel und Industrieabbau ins Verhältnis setzen und sagen: Kinder, habt euch nicht so, da ist noch Luft nach oben, und überhaupt: Et hätt noch immer jot jejange, wie man im katholischen Rheinland sagt.

Relativismus ist der Feind des Alarmismus – aber die Relativierer gelten heute als Abwiegler und Wirklichkeitsleugner. Dass die Menschen gleichsam gattungsbedingt dazu neigen, schwarzzumalen, räumt auch der Bundespräsident in seinem neuen Buch Wir ein, um dann klarzustellen, dass früher die Lage "regelmäßig besser als die Stimmung" gewesen sei, das sei heute aber nicht mehr der Fall: "Jetzt ist die Lage wirklich schwierig." Anders ausgedrückt: This time is different! Diesmal ist es wirklich ernst.

Und sosehr das Land auch sonst gespalten ist, in diesem Punkt sind sich alle politischen Lager einig: dass die Fundamente, die bisher Stabilität versprachen, bröckeln, dass die Ordnung nicht mehr hält. Für die einen ist es die Erderwärmung, die zu einer singulären Gefährdungslage geführt hat, für die anderen die kulturelle Überfremdung oder gar die demografische "Umvolkung" Deutschlands, die das Leben, wie wir es kennen, für immer zerstört. Und für die Dritten, möglicherweise eine Schnittmenge der beiden Lager, sind es die sozialen Medien, die dazu geführt haben, dass Jungs sich nicht mehr konzentrieren können und die Angststörungen bei Mädchen seit 2014 rasant zugenommen haben. "So was gab es noch nie" ist der Refrain, der in allen gesellschaftlichen Milieus auf die eine oder andere Weise variiert wird. Psychoanalytiker könnten dahinter eine Art Ausnahmezustandsnarzissmus vermuten: Die Erde dreht sich seit Äonen, aber ausgerechnet wir meinen den Kipppunkt erreicht zu haben und die letzte Generation zu sein. Immerhin hat man dadurch die Lizenz zum Pathos.

Um ja nicht als leichtfertiger Leugner der schlimmen Wirklichkeit (der Dürren im Sommer oder der migrantischen Messerattacken) dazustehen, ist unser Standard-Gesichtsausdruck: verbissene Erschütterung ob des Ernstes der Lage. Weshalb es in der Politik an allem fehlt, was man Leichtigkeit, Witz und gute Laune nennen könnte. Dieses Fehlen ist so umfassend, dass nicht einmal das Fehlen selbst beklagt wird. Als wäre unser Frohsinnsmuskel mangels proaktiven Einsatzes bereits zurückgebildet.

Zugegeben: Ebenso wie ein Krisenmaßstab fehlt, fehlt uns auch ein objektiv geeichter Stimmungsmesser, mit dem man wie mit einem Fieberthermometer die Laune der Gesellschaft und der Politik messen könnte. Doch der intuitiven Diagnose, dass das Lachen, dass der Humor, dass die Leichtigkeit aus der Politik verschwunden ist, dürfte vermutlich niemand widersprechen. Die meisten würden nur entrüstet hinzufügen: Wie sollte das auch anders sein, wenn die Welt am Abgrund steht! Wer jetzt noch auf heiteres Gemüt macht, hat den Schuss nicht gehört.

In dieser Situation will sich niemand bei einem Witz erwischen lassen, denn das könnte als Zeichen mangelnder Empathie für das Schicksal der Menschheit gedeutet werden. Über nichts ist sich das Land einig, aber als der damalige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet 2021 bei der Flut im Ahrtal im Off des Bundespräsidenten beim Lachen erwischt wurde, war klar, dass es um seine Kanzlerkandidatur geschehen war. Obwohl es zum Wesen des Lachens gehört, nicht kontrollierbar zu sein, wurde dieses Lachen als Ausdruck mangelnder moralischer Selbstbeherrschung gedeutet. Die alte menschliche Erfahrung, dass gerade in Momenten psychischer Belastung sich oft ein Lachen als lösende Übersprungshandlung einstellt, dass diese Übersprungshandlung also nicht Ausdruck der Empathielosigkeit, sondern vielmehr der inneren Not sein könnte, wurde dem Unionskandidaten von der Öffentlichkeit nicht zugestanden. Wenn aber bereits das Lachen als Übersprungshandlung mit keiner Nachsicht rechnen darf, warum sich dann überhaupt mit einem Witzwort in die Offensive wagen?

Es regiert das Tugendideal des sittlichen Ernstes. Was schon ein bisschen überraschend ist, denn zumindest der Ausdruck selbst kommt aus spießigen Vorzeiten, als sich bürgerlicher Status noch darin zeigte, dass man einen schlecht sitzenden Anzug trug plus farblich problematische Krawatte. Damals sagte man gerne über Menschen, die man von verantwortungsvollen Ämtern fernhalten wollte, es fehle ihnen an sittlichem Ernst. Dahinter verbarg sich ein kleinbürgerlicher Normdruck, den es dann umgekehrt mit spontihafter Anarchie zu torpedieren galt. Heute, 50 Jahre nach den Spontis, wird überhaupt nur noch das Betroffenheitsregister gezogen. Jeder spricht mit Grabesstimme, um nur nicht als frivol dazustehen. Das Frivole wird nicht mehr als vitaler Überschwang gewürdigt, der schon auch mal übers Ziel hinausschießt, sondern als Protokollverstoß verzeichnet.

Wir haben uns in den letzten zehn Jahren an eine neue Sprachkultur angepasst, die die Spielfreude nicht gerade erhöht. Seit sich die innere Gesinnung an äußeren Wörtern festmachen lässt, hat der spontane Schlagabtausch kaum mehr Luft zum Atmen. Wenn selbst die Erinnerung daran, dass man als Kind einmal Indianerhäuptling werden wollte, öffentliche Reuerituale zur Folge hat, wie es 2021 der grünen Berliner Spitzenkandidatin Bettina Jarasch erging, legt man jedes Wort auf die Goldwaage.

Es ist kein Zufall, dass im Bundestag kaum noch ein Abgeordneter frei redet, obwohl die Geschäftsordnung das eigentlich so vorsieht. Der Bundeskanzler agiert nach dem Motto: Wer zuerst blinzelt, hat verloren – und kultiviert Verschlossenheit als Süffisanz. Wenn er hauchzart schmunzelt, sieht man ihn förmlich, wie er die klassische Verschwiegenheitsgeste ausführt und sich den Mund mit einem unsichtbaren Schlüssel verschließt. Auf diesen Geheimnisträger ist Verlass. Sein Herausforderer Friedrich Merz gehört zwar zu den letzten Frei-Sprechern des Parlaments, aber in seiner inneren Gepanzertheit kennt seine Rhetorik nur das Warnwort – vorgetragen mit der Mimik des blanken Entsetzens.