Ich habe meinen Twitter-Account vergangenen Sommer deaktiviert, auf einer Taxifahrt auf dem Weg nach Hause. Hinter mir lag eine Party, die ich zu weiten Teilen damit verbracht hatte, mich von einer Frau mit liebenswürdigen Belanglosigkeiten vollquasseln zu lassen. Diese Frau hatte wenige Tage zuvor noch erschreckend harsche Dinge über mich auf Twitter geschrieben. Ich hatte in diesem Sommer einen Shitstorm hinter mir, das führt in der Regel ohne Ausnahmen dazu, dass man ein Debattenthema auf Twitter wird. Wer einmal ein Debattenthema auf Twitter ist, kann sich zum einen darauf verlassen, dass das nach wenigen Wochen wieder vorbei ist, und zum anderen, dass man ohne größere Suche auf Twitter Dinge über sich selbst zu lesen bekommt, die so absonderlich und richtungslos gemein sind, dass man sie selbst an schlechten Tagen nur mit ausreichend Abstand zu sich selbst in den Spiegel sagen würde.

Auf Twitter aktiv zu sein löst dasselbe Dilemma in einem aus, in dem man sich befindet, wenn man einen Promi im Swingerclub trifft. Wie kann man die in den eigenen Augen absolut erzählenswürdige Anekdote verbreiten, wenn man gleichzeitig zugeben müsste, dass man auch im Swingerclub war? Auf Twitter übertragen bedeutet das: Wie kann man sich über die Enthemmtheit der Menschen echauffieren, wenn man doch selbst Teil der Enthemmtheit ist? Es gibt sicher Ausnahmen, aber die vielleicht wichtigste Säule im deutschsprachigen Twitter ist die Gemeinheit der Menschen, die im weitesten Sinne irgendwas mit Medien machen.

Die Tweets der Frau hatte ich mit genau der gespielt abgestumpften Pose gelesen, mit der man auf Twitter auf Hass allem Anschein nach zu reagieren hat, weil man nämlich nur zu gut weiß, dass man selbst ein halbes Dutzend Leichen im Twitter-Keller hat, die vermutlich genauso böse, herablassend, inhaltslos oder offen hasserfüllt sind. Es gibt keine Instanz des guten Geschmacks oder angemessenen Miteinanders auf Twitter, früher oder später werden alle ein bisschen roh. Und diese Rohheit zwingt einen dazu, die Rohheit der anderen vermeintlich etwas gelassener auszuhalten. Auf Twitter wollen die Leute vielleicht nicht unbedingt gute Menschen sein, aber sie wollen zumindest nicht selbstgerecht sein.

Die Frau auf der Party also quasselte mich voll. Ich sah in ihrem Gesicht das schlechte Gewissen, das ich in vielleicht zehn Jahren Twitter auch so oft gehabt hatte, jenes nämlich, das sich einstellt, wenn man im echten Leben auf die Existenz des eigenen Twitter-Ichs hingewiesen wird. Dann erst fällt einem in der Regel auf, wie absurd die meisten Dinge sind, die man sich dort zu schreiben erlaubt. Sie redete mit der gespielten Heiterkeit, die nur peinliche Berührung erzeugen kann, und als sie aufhörte zu reden von Urlauben und gemeinsamen Bekannten und den herrlichen Wanderstrecken Brandenburgs, nahm ich meinen Mantel, bestellte mir ein Taxi und fuhr nach Hause. Auf der Fahrt dann wäre ich gerne empört gewesen über die offensichtliche Absurdität dieser Geschichte. In Wahrheit war ich schon oft selbst diese Frau gewesen, die im echten Leben mit gespielter Nettigkeit versuchte, ihre Schlechtigkeit auf Twitter zu kompensieren. Ich war ja auch im Swingerclub. Wieso sollte ich jetzt so tun, als sei es interessant, dass andere Leute auch da waren?

Jedes soziale Netzwerk hat seinen spezifischen Hass. Twitter in Deutschland ist ein komplizierter Sonderfall, weil kein soziales Netzwerk in Deutschland so relevant und im selben Moment irrelevant in einem zu sein scheint. Zum einen gibt es wohl kaum ein Netzwerk, in dem sich für alle öffentlich einsehbar so viele Eliten miteinander verbinden. Spitzenpolitiker und Ministerinnen, Lobbyisten, Promis, Besitzer der größten Werbeagenturen, Aktivistinnen, Wissenschaftler und sogar Schlüsselfiguren aus dem Militär, sie alle twittern sich gegenseitig Kram in die Timeline. Am wichtigsten an Twitter ist aber vielleicht, dass die meisten Journalisten und Journalistinnen einen Twitter-Account haben. Jede Debatte, die sich auf Twitter aus der Masse an potenziellen Themen an die Oberfläche kämpft, wird von einem Großteil derer gesehen, die dafür verantwortlich sind, Debatten in ihren Medien zu platzieren.

Debatten auf Twitter sind um Längen wertvoller als Debatten auf Instagram oder gar TikTok, weil sie dort eben nicht von wichtigen Multiplikatoren gesehen werden. Das führte in den besten Fällen schon dazu, das hochrelevante Debatten plötzlich zeitgleich in allen wichtigen Medien diskutiert wurden. In den schlechtesten Fällen lassen sich Journalisten immer wieder vom Versprechen ihrer eigenen Wichtigkeit einlullen und dazu hinreißen, absolute Null-Nacherzählungen von Twitter-Diskussionen aufzuschreiben, die schon wenige Stunden nach Veröffentlichung nicht mehr als ein lieb gemeinter Gruß an die eigenen Follower sind. Womit wir bei der Irrelevanz von Twitter wären.