Großbritannien-Wahl Ein EU-Beitritt Großbritanniens? „In ein oder zwei Jahrhunderten“

Die Flaggen von Großbritannien und der EU. Quelle: Stefan Rousseau/Press Associatio

Auch nach den Wahlen wird das Vereinigte Königreich wahrscheinlich keine Rückkehr in die EU anstreben. Was aber, wenn sich diese Haltung ändern sollte?

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Die Chancen für einen Wiedereintritt Großbritanniens in die EU stehen derzeit eher schlecht. Labour-Chef Keir Starmer – der nächste britische Premierminister – hält weder eine Vollmitgliedschaft noch den Beitritt zu Binnenmarkt oder Zollunion zu seinen Lebzeiten für wahrscheinlich, sagte er Journalisten. Doch Politik ist nicht statisch. Wenn die Bevölkerung das Land zurück in die EU führen will, was müsste dann passieren?

Die Europäische Union verlangt von Beitrittskandidaten die Erfüllung der sogenannten Kopenhagener Kriterien. Dazu gehören Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, eine funktionierende Marktwirtschaft und die Fähigkeit, EU-Recht effektiv umzusetzen. Nach Einschätzung von Nicolai von Ondarza von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) dürfte Großbritannien diese Kriterien auch vier Jahre nach dem endgültigen Brexit ohne größere Probleme erfüllen.

Ein wesentlicher Grund dafür: Obwohl die Brexit-Befürworter – neben einer Begrenzung der Zuwanderung – damit warben, dass das Land nach einem Austritt wieder von der EU-Gesetzgebung abweichen könne, ist dies in der Praxis in den vergangenen Jahren kaum geschehen. „Großbritannien hat den allergrößten Teil der EU-Gesetzgebung – so wie er ist – übernommen“, bestätigt Ondarza. Zwar habe es unter den Konservativen immer wieder Bestrebungen in Richtung einer weitgehenden Deregulierung gegeben, diese seien aber von den Wirtschaftsverbänden abgelehnt worden.

Der jüngste Bericht des sogenannten UK-EU Divergence Trackers, der von der Denkfabrik UK in a Changing Europe herausgegeben wird, bestätigt die Aussagen des SWP-Experten. Demnach ist ein Großteil der aktuellen Unterschiede zwischen britischer und EU-Gesetzgebung darauf zurückzuführen, dass die EU seit dem Austritt neue Gesetze erlassen hat, die in Großbritannien nicht übernommen wurden. Ondarza sieht darin aber kein großes Hindernis für einen Wiedereintritt.

Viel problematischer – vor allem für die politische Debatte im Königreich – könnten seiner Meinung nach die zusätzlichen Bedingungen sein, zu denen sich neue EU-Mitglieder verpflichten: Den Beitritt zum Schengen-Raum und die Einführung des Euro. Insgesamt hält er es für nahezu ausgeschlossen, dass sich die EU in dem „rein hypothetischen Fall“ darauf einlässt, die einst gewährten Sonderkonditionen wieder einzuführen.

Großbritannien erlebt einen Umbruch. Erstmals seit 14 Jahren stellt Labour den Regierungschef. Die Partei fährt einen überwältigenden Sieg ein. Doch den Erfolg verdankt sie ihrem politischen Gegner.

Neben dem einst von Premierministerin Margaret Thatcher ausgehandelten sogenannten Britenrabatt bei den Nettozahlungen war Großbritannien bis zu seinem Austritt auch aus dem Schengen-Raum und der Eurozone ausgeklammert. Bei den Zahlungen sieht der SWP-Experte, der die dortige Forschungsgruppe EU und Europa leitet, noch den größten Verhandlungsspielraum, nicht aber bei der Personenfreizügigkeit und der gemeinsamen Währung.

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Mit dem Euro kommen weitere Verpflichtungen, die die Stabilität des gemeinsamen Währungsraums sichern sollen: Die Maastricht-Kriterien. Sie begrenzen die Neuverschuldung auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und die Gesamtverschuldung auf 60 Prozent des BIP. Auch wenn die meisten europäischen Länder die Regeln derzeit nicht einhalten, dürfte bei Neumitgliedern darauf gepocht werden.

Dazu müsste Großbritannien seine Staatsfinanzen in Ordnung bringen: Nach Angaben des britischen Statistikamts lag der Schuldenstand im April bei rund 98 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung, die Neuverschuldung erreichte mit 20,5 Milliarden Pfund den vierthöchsten Wert seit 1993.

Zwar könnten die Briten auch der EU beitreten, ohne gleich den Euro einzuführen. Auch eine bewusste Verzögerungstaktik – ähnlich wie bei den Schweden – sei denkbar, so Ondarza. Doch zum einen würde das seiner Einschätzung nach nur maximal 15 Jahre funktionieren, zum anderen würde eine solche Politik bei den anderen EU-Ländern auf Ablehnung stoßen. Schon vor dem Austritt war das Land in Europa als Rosinenpicker bekannt.

Vor diesem Hintergrund und in Erinnerung an die jahrelangen schwierigen Austrittsverhandlungen sind auch die Äußerungen des ehemaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker zu sehen. Gegenüber dem Medium „Politico“ sagte der Luxemburger, er könne sich eine Wiederaufnahme des Vereinigten Königreichs vorstellen – „in ein oder zwei Jahrhunderten“.

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