Großbritannien-Wahl „Die dramatischste Auslöschung einer britischen Regierung, seit wir leben“

Immerhin seinen Wahlkreis hat Noch-Premier Rishi Sunak gewonnen, aber Freude sieht anders aus. Quelle: Darren Staples/PA Wire/dpa

Seit Monaten war klar, dass Labour die Wahl in Großbritannien gewinnen dürfte. Wie deutlich das Ergebnis ausfällt, überrascht dennoch – und pulverisiert eine einstmals stolze Volkspartei.

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Was für ein Triumph der Langeweile! Denn kaum etwas anderes verkörpert der Labour-Spitzenkandidat und künftige Bewohner der Downing Street 10, Keir Starmer, so sehr. Die Briten, entnervt von 14 Jahren erratischer bis populistischer Tory-Regentschaft, haben den Konservativen einen historischen Rausschmiss beschert und Labour einen ebenso historischen Sieg. Der bisherige Premierminister Rishi Sunak hat bereits seinen Rücktritt als Tory-Parteichef angekündigt – und sich bei den Briten entschuldigt.

Den vorläufigen Endergebnissen zufolge hat Labour 412 der insgesamt 650 Unterhaussitze gewonnen, mehr als doppelt so viele wie bei der letzten Wahl. Die konservativen Tories hingegen kommen demnach nur noch auf 120 Sitze, ein Minus von 250 Abgeordneten. Deutlich gewinnen konnten auch die freien Demokraten der LidDems, die mit 71 Sitzen drittstärkste Kraft werden könnten und damit der Scottish National Party den Rang ablaufen, die deutliche Einbußen hinnehmen musste. Das offizielle Ergebnis steht noch aus, die letzten Kreise werden noch ausgezählt.

Es ist eine Wahl der Superlative: Es könnte die größte Mehrheit seit mindestens 190 Jahren werden, wie findige Beobachter schon vor der Wahl errechnet haben. 266 Sitze Vorsprung hat Starmers Labour vor den Tories, ein nahezu unerhörter Wert. Zwar konnte Tony Blair mit seinem New Labour beim letzten fulminanten linken Wahlsieg 1997 sogar noch mehr Sitze auf sich vereinen (418), aber damals waren die Tories nicht ganz so am Boden (165). Damit geht Großbritannien einen ganz anderen Weg als so manch kontinentaleuropäisches Land, dem derzeit eher ein Rechtsruck droht.

In Großbritannien ging es hoch her

Dennoch sei es falsch, jetzt von einem „Erdrutschsieg“ zu sprechen, wie es viele Medien tun, moniert Holger Schmieding, der in London ansässige Chefökonom der Berenberg-Bank. „Der Begriff ist irreführend.“ Tatsächlich habe nicht Labour haushoch gewonnen, sondern die Tories haushoch verloren. Der britische Arm des Politikportals Politico spricht von der „dramatischsten Auslöschung einer britischen Regierung, seit wir leben“, von einem „Blutbad“.

Die Zahlen geben ihnen Recht.

Schon seit einem Jahr liegt Labour in den Umfragen stabil um die 20 Prozent vor den Tories. Der stabile Vorsprung, gepaart mit einem übermäßig bodenständigen Kandidaten, hätte eigentlich zu geringer Wahlbeteiligung und Desinteresse führen können. Für eine Wahl, die ausschließlich auf Langeweile ausgelegt war, ging es dann aber doch noch erstaunlich hoch her in Großbritannien.

Johnson warnte vor dem „Starmergeddon“

Beide Kandidaten waren in den letzten Tagen geradezu hyperaktiv und tourten von sehr früh morgens bis sehr spät abends durch die Wahlkreise. Starmer besuchte dabei einen Tory-Hotspot nach dem anderen, um den Wechsel von blau nach rot zu forcieren. Insgesamt legte er in seinem Wahlkampf laut Labour-eigenem Schrittzähler über 13.000 Kilometer zurück.

Auch Rishi Sunak besuchte nur absolute Tory-Hochburgen, wo er sicher sein konnte, dass zumindest ein paar Unterstützer auf ihn warteten. Zwei Tage vor der Wahl zog er bei einem dieser Auftritte gar alle Register und holte Politclown Boris Johnson zu einem Überraschungsauftritt aus der Mottenkiste. Johnson wetterte und polterte in gewohnter Manier und versuchte vor allem, Angst vor der Linken zu schüren. Großbritannien dürfe nicht ins „Starmergeddon“ schlafwandeln, kalauerte er.

Der Gastauftritt war ein riskantes Manöver für Sunak, steht Johnson doch wie kaum ein anderer für die so erratische wie desaströse Performance der vergangenen 14 Jahre Tory-Regierung. Und mehr Applaus als Sunak bekam Johnson – der bislang letzte vom Volk gewählte Tory-Premierminister – offenbar auch noch.

Auch Sunak drehte noch einmal auf. „Wir haben nur noch 48 Stunden, um Großbritannien zu retten“, rief er bei dem Event, bei dem auch Johnson auftrat. Angst scheint das letzte Mittel der Verzweiflung zu sein. „Dein Auto, deine Rente, dein Erspartes, dein Zuhause, dein Unternehmen, sie werden alles besteuern“, behauptete Sunak mit Blick auf den anstehenden Sieg Labours. Am Wahlmorgen legte er per X noch einmal nach: „Stoppt die Labour-Super-Mehrheit, die höhere Steuern für eine ganze Generation bringen wird.“

Darum waren die Wahlprognosen so unterschiedlich

Sunaks Appell ist sichtbar versandet, Labours Mehrheit deutlich mehr als super. Zwar gibt es im britischen System keinen Unterschied zwischen einer normalen und einer Supermehrheit, der Gewinner regiert, Koalitionsregierungen sind in Großbritannien nicht üblich. Doch das Ausmaß, in dem Labour jede ernstzunehmende Opposition pulverisiert hat, ist auch im britischen System unerhört.

Interessant ist, dass es noch bis kurz vor der Wahl extrem unterschiedliche Prognosen gab, wie hoch die Labour-Mehrheit ausfallen würde. Von 210 bis weit über 400 Sitze war alles dabei.

Grund ist nicht nur die Ungenauigkeit der Prognosen, sondern auch das britische Wahlsystem. Jeder der 650 Wahlkreise stellt einen direkt gewählten Abgeordneten, wer am meisten Stimmen hat, gewinnt den Kreis. Da keine absolute Mehrheit nötig ist, können im Zweifel ein paar Stimmen den Unterschied machen. The winner takes it all also, selbst wenn nur eine Minderheit aller Wähler für ihn gestimmt haben sollten. So kommt es, dass sich die Sitzverteilung im britischen Unterhaus am Ende oft deutlich von der Verteilung der Wählerstimmen landesweit unterscheidet.

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Bislang konnten die Tories sehr von diesem System profitieren, das großen Parteien hilft und Kleinstparteien noch kleiner hält. Jetzt ist die einstmals so stolze große europäische Volkspartei selbst kaum noch mehr als eine kleine Partei.

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