Was blieb ihm anderes übrig, Cristiano Ronaldo musste Lob verteilen. Ein 6:1 ohne sonderlich großes eigenes Zutun, er lediglich eingewechselt in der 74. Minute gegen die Schweiz, da gebot es der Anstand, das vermutlich gekränkte Ego hinten anzustellen. Der 37 Jahre alte Edelreservist befand also am frühen Mittwochmorgen via Instagram, dass diese Torgala ja nun wirklich ein „historisches Ergebnis im größten Wettbewerb des Weltfußballs“ sei, der Traum lebe („Bis zum Ende! Komm schon, Portugal“) und das Team ja nun mal eine „Luxusansammlung voller Talent und Jugend“ auf den Platz bringe. Und ihn eben auf die Bank.
Denn die Jugend hat überzeugt, im Vorfeld und auf dem Platz. Ronaldo musste Goncalo Ramos weichen, einem 21 Jahre alten Talent von Benfica Lissabon. Das war überraschend, zeigte aber Wirkung. „Mit einem 6:1-Sieg ist Trainer Fernando Santos in allen Entscheidungen bestätigt worden“, schrieb etwa Jürgen Klinsmann in einem Beitrag für die BBC und dass es „für Ronaldo keine einfache Situation“ sei.
Tatsächlich durfte sich Portugals Trainer komplett bestätigt fühlen. Ramos schoss von den sechs Toren drei. Er trug also maßgeblich dazu bei, dass Portugal ins erste WM-Viertelfinale seit dem Turnier 2006 in Deutschland vorstoßen konnte. Nur bei den Weltmeisterschaften 1934 und 1938 hatte es überhaupt höhere Achtelfinal-Siege gegeben. Ramos ist auch der erste Spieler seit Miroslav Klose im Jahr 2002, dem bei seinem WM-Startelfdebüt drei Treffer gelangen. Zudem ist er nun mit 21 Jahren und 169 Tagen der zweitjüngste portugiesische Spieler mit einem WM-Tor. Nur einer war jünger: Ronaldo im Jahr 2006, als er mit 21 Jahren und 132 Tagen gegen den Iran traf. „Beeindruckend“, titelte die portugiesische Zeitung „A Bola“. Dabei hatte der Angreifer bei seiner Nominierung in den WM-Kader noch nicht einmal ein Länderspiel bestritten, das Debüt folgte kurz vor dem Turnier.
Ronaldo verschwand nach Schlusspfiff als Erster
Und der Altstar selbst? Es war laut dem Datendienstleister Opta das erste Mal seit 2008, also seit 31 Spielen, dass der bei einem großen Turnier zu Beginn auf der Bank saß. Bei einer WM hatte er gar zuvor in jedem Spiel, in dem er eingesetzt wurde, in der Startelf gestanden. Nur beim dritten Gruppenspiel bei der WM 2006 gegen Mexiko kam er überhaupt nicht zum Einsatz. Gegen die Schweiz erzielte er ein Abseitstor und verschwand nach Schlusspfiff als erster Portugiese wieder vom Rasen.
Sein Trainer musste sich nach dem Spiel natürlich erklären, Ronaldo ist immer auch ein Politikum in Portugal, wenn etwas nicht nach so läuft, wie er sich das selbst vorstellt. Das war schon nach dem letzten Gruppenspiel gegen Südkorea so, als er ausgewechselt wurde und noch auf dem Spielfeld wütend darauf reagierte hatte. Portugiesische Medien wollen die Tirade ausgemacht haben, die da auf Santos abgefeuert wurde. „Du hast ganz schön Eier, mich runterzunehmen“, soll Ronaldo demnach gesagt haben - und dann wohl noch etwas Unflätiges hinterhergeschoben.
„Habe ich die Bilder gesehen, als Ronaldo ausgewechselt wurde? Ja“, hatte Santos gesagt: „Hat mir gefallen, was ich gesehen habe? Nein, es hat mir überhaupt nicht gefallen.“ Das ließ Rückschlüsse zu, warum Ronaldo nun eventuell überraschend auf der Bank gelandet sein könnte.
Doch Santos wiegelte solche Gedankenspiele ab. „Cristiano und Ramos sind unterschiedliche Spieler“, versuchte Portugals Trainer zu erklären und betonte, es gebe „kein Problem mit dem Kapitän der Nationalmannschaft“. Seine Entscheidung für Ramos habe „nichts damit zu tun, diese Angelegenheit ist abgeschlossen“ Ronaldo sei „ein vorbildlicher Profi“. Er lobte aber Ramos auch gleichzeitig für dessen Dynamik, Zweikampfstärke und seinen Zug zum Tor: „Ich wähle die Spieler aus, die am besten zu meiner Strategie passen.“
Ronaldos zukünftige Rolle ließ er dagegen offen. „Das müssen wir sehen. Das ist etwas, was erst noch definiert werden muss“, sagte der 68-Jährige auf die Frage, ob für seinen Weltstar nun ein neuer Abschnitt im Nationalteam beginne. „Ich habe eine sehr enge Beziehung zu ihm. Wir sind seit vielen Jahren Freunde. Aber wir sind auch Trainer und Spieler. Ich habe ihm gesagt, dass er ein sehr wichtiger Spieler ist, das weiß er“, sagte Santos. Aus seinen Äußerungen ließ sich heraus hören, dass Ronaldo wohl erst in der Kabine kurz vor dem Spiel erfahren habe, dass er nicht mit von der Partie ist. Und dann? „Cristiano hat als Kapitän das gemacht, was er immer macht. Er hat uns geholfen, uns ermutigt, die gesamte Mannschaft“, sagte Ramos über die ungewohnte Bankdrücker-Rolle Ronaldos.
Die lastet durch die Trennung von seinem Klub Manchester United und der offenen Frage, wohin es den nunmehr Vereinslosen in Zukunft zieht, nun noch zusätzlich auf ihm. Er fühlte sich jedenfalls nach dem Duell gegen die Schweiz offensichtlich genötigt, Berichte über eine Einigung mit dem saudischen Verein Al-Nassr zurückzuweisen. „Nein, das stimmt nicht“, rief Ronaldo Reportern beim Verlassen des Stadions zu. Die spanische Zeitung „Marca“ hatte zuvor berichtet, Ronaldo habe sich mit dem Klub aus Saudi-Arabien auf einen Vertrag über zweieinhalb Jahre geeinigt. Das Gesamtvolumen des Deals soll bei 200 Millionen Euro pro Jahr inklusive Werbeeinnahmen liegen.
Zunächst aber steht das Viertelfinale am Samstag gegen das Überraschungsteam aus Marokko an (16.00 Uhr, im Sport-Ticker der WELT), ob mit oder ohne ihn. Die Fans hatten im Verlauf der Partie gegen die Schweiz mit lautstarken Chören seine Einwechslung gefordert und wurden dann spät erhört. Sein Schwester Katia Aveiro aber empfahl ihm via Instagram, er soll besser abreisen. „Ich wollte wirklich, dass er nach Hause kommt, die Nationalmannschaft verlässt und an unserer Seite sitzt, damit wir ihn umarmen und ihm sagen können, dass alles in Ordnung ist, ihn daran erinnern, was er erreicht hat“, schrieb sie bei Instagram: Komm zu dir nach Hause. Dort verstehen sie dich. Wo bleibt all die Dankbarkeit?“