Der Reporter hatte gedacht, die Frage würde Jude Bellingham überraschen – doch stattdessen überraschte ihn dann die Antwort. Wie er denn den Song „Hey Jude“ finde, wollte der britische Journalist wissen. Er würde doch schon von Alters wegen sicher kaum die Beatles hören. „Oh doch“, antwortete Bellingham, der am 29. Juni 21 wird: „Mein Musikgeschmack ist wenig altmodisch.“ Besonders gerne aber höre er das Lied, wenn es von den englischen Fans gesungen wird – und auf ihn bezogen ist.
So wie am Sonntag gleich mehrfach auf Schalke. Denn dass England, einer der hoch gehandelten Favoriten auf den Titel, mit einem 1:0 (1:0)-Sieg in die EM gestartet ist, ist allein Bellingham zu verdanken. Es war ein eindrucksvoller Beweis der Stärke und Reife des Mittelfeldstars von Real Madrid, der einen Fehlstart des Teams von Trainer Gareth Southgate verhinderte – nichts mehr und nicht weniger.
Das war dann tatsächlich auch das einzige, das Bellingham an diesem Abend nicht gelang: diese einzig zulässige Sichtweise auf die sehr zähe Partie irgendwie umzudeuten. Auch wenn er versuchte, bescheiden zu wirken und sich auch noch so sehr bemühte. „Ich denke, dass wir in der ersten Halbzeit gezeigt haben, warum wir gegen jede Mannschaft Tore schießen können. Die zweite Halbzeit hat dann gezeigt, warum wir gegen jede Mannschaft kein Gegentor bekommen müssen“, sagte er: „Und wenn du ohne Gegentor bleibst, hast du in jedem Spiel eine Chance.“ Ist doch logisch, oder?
Bis zu 70 Pflichtspiele in den Knochen
Ganz so simpel war es freilich nicht. Denn die „Three Lions“ waren nicht nur von stimmgewaltigen Fans nach Deutschland begleitet worden, sondern auch von allerlei Zweifeln: Ist die Mannschaft diesmal stark genug, um den ersten großen Titel seit 1966, dem WM-Sieg im eigenen Land, einzufahren? Reicht die Kraft der hoch dotierten und veranlagten Stars, die teilweise bis 70 Pflichtspiele in den Knochen haben? Auf diese Fragen gab es trotz der ersten drei Punkte keine wirklich hoffnungsvoll stimmende Antwort.
Ohne Bellingham würde im englischen Tross wahrscheinlich schon vor dem Spiel gegen Dänemark am Donnerstag Alarm-Stimmung herrschen. Der ehemalige Dortmunder, der wegen seines Sonderurlaubs nach dem Champions League-Finale mit Real erst kurz vor dem Abflug nach Deutschland zur Mannschaft gestoßen war, war gegen Serbien alles – Antreiber, Stratege und Torschütze.
In der 13. Minute rammte er mit ungeheurer Wucht eine leicht abgefälschte Flanke von Bukayo Saka per Kopf ins Netz. Es war ein Traumtor, weil es seinen Charakter betont: Bellingham flog ohne Rücksicht auf Verluste in diesen Ball, sein Bewacher hatte keine Chance und ging zu Boden. Danach wurde zum ersten Mal „Hey Jude“ gesungen.
„Es war einer dieser magischen Momente, in dem alles zusammenpasst“, sagte er. Die Kombination, die dem Tor vorausgegangen war, der richtige Augenblick, in dem er in den Strafraum gestartet war. „Ich gehe gerne in die Box, weil ich weiß, dass mich meine Mitspieler finden“, so Bellingham. Er lobte vor allem das Zusammenspiel mit Trent Alexander-Arnold, den Southgate überraschend ins Mittelfeld vorgezogen hatte. Der Liverpool war neben Bellingham stärkster Engländer.
Vor allem aber war es in der ersten Halbzeit eine One-Man-Show. Nahezu alles bei England lief über Bellingham, den Southgate ähnlich wie Carlo Ancelotti in Madrid auf der Spielmacherposition aufbot. Das ist der Unterschied zwischen dem aktuellen Bellingham, der sich fraglos auf dem Weg zu einem Weltstar befindet – und dem von der EM 2021 und der WM 2022. Damals spielte er entweder im defensiven Mittelfeld oder auf einer Halbposition. Bei seinem bereits dritten großen Turnier ist aus dem Sechser und Achter ein Zehner geworden. Es ist überhaupt das erste Mal, dass ein 20-Jähriger schon seine dritte Turnierteilnahme verbuchen kann.
„Das ist für mich kein Job, sondern reines Vergnügen“
„Ich habe das Gefühl, dass ich jedem Spiel Einfluss haben kann und jedes Spiel entscheiden kann. Das ist für mich kein Job, sondern reines Vergnügen“, erklärte Bellingham in großer Selbstverständlichkeit. Das vernahm vor allem Southgate mit Erleichterung: Denn wie sehr die Engländer auf Bellingham angewiesen sind, das wurde am Sonntag überdeutlich.
Nach dem Wechsel jedenfalls verlor der Favorit den Faden. Auffällige Passivität trat zutage. Die Serben, die mutiger wurden und früher attackierten, kamen zu Tormöglichkeiten. Englands Abwehr, ohnehin der schwächste Mannschaftsteil, schwamm. „Wir haben die Energie verloren, aber das hat mich nicht überrascht“, sagte Southgate. Die Mannschaft wachse immer noch zusammen, viele Spieler hätten wegen der Zeit zwischen des Saisonendes und dem EM-Start länger nicht mehr über 90 Minuten gespielt.
Die nun erkennbare Hilflosigkeit ließ sich vor allem an Harry Kane ablesen. Abgesehen von einem Kopfball des Torjägers, den Serbiens Keeper Pedrag Rajkovic stark parieren konnte, war von ihm nichts sehen – weil er keine Bälle bekam. England, da hatte Southgate recht, pumpte und rettete sich so gerade über die Ziellinie. Auch Saka, der ausgewechselt wurde, und von Phil Foden blieben wirkungslos.
So war es trotz des Sieges nicht unbedingt ein Abend, der Mut machte – abgesehen von Bellingham. Die Frage ist allerdings, ob er alleine ausreichen wird, damit England ernsthaft um den Titel mitspielen kann. Diese bange Frage wurde von den meisten englischen Fans am Sonntagabend jedoch verdrängt. Nach Schlusspfiff sangen sie noch mal „Hey Jude.“ Bellingham habe diesen „traurigen Song genommen und besser gemacht“, schrieb der „Telegraph“.
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