In den frühen Morgenstunden des Freitags ließ sich der britische Labour-Chef Keir Starmer zu einem beherzten Faustschlag in die Luft hinreißen, als feststand, dass seine Partei die britischen Konservativen nach 14 Jahren Regierungszeit ablösen würde. Die ganze Nacht hatte der 61-Jährige auf einer Wahlparty mit seiner Frau und Anhängern gebannt auf den Bildschirm gestarrt und die Ergebnisse verfolgt, die seiner Partei einen historischen Sieg bescheren würden: 412 der 650 Sitze im Unterhaus, ein massiver Zuwachs gegenüber den 202 Sitzen im Jahr 2019, als die Sozialdemokraten ihr schlechtestes Ergebnis seit fast 90 Jahren einfuhren.
Weit abgeschlagen landeten die Konservativen mit 121 Sitzen, abgestürzt von 365 Sitzen. Wenige Stunden später saß Starmer im cremefarbenen Audienzsaal des Buckingham-Palastes neben König Charles III., der ihn mit der Regierungsbildung beauftragte. Danach fuhr er in die Downing Street, wo ihn Presse und jubelnde Anhänger zu seiner ersten Rede als Premierminister empfingen. Dass er erschöpft sein müsse, wie der Monarch zuvor im Gespräch mit ihm bemerkte, war dem besonnen lächelnden Starmer nicht anzumerken.
Eine Verschnaufpause kann sich der Premierminister ohnehin nicht leisten. Die Konservativen haben der neuen Regierung ein Land in der Krise hinterlassen. Die Staatsverschuldung ist die höchste seit fast 70 Jahren, die Steuern so hoch wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, Löhne und Produktivität stagnieren. Die Gefängnisse sind überfüllt, das Bildungssystem und der Gesundheitsdienst NHS völlig unterfinanziert. Im April warteten die Briten durchschnittlich fast 14 Wochen auf eine Behandlung. Die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt ist so groß, dass wegen der explodierenden Preise die Briten buchstäblich auf der Straße landen.
Die Versprechen Starmers sind umfassend – und teuer
Diese Realität vor Augen, legte Starmer in seiner Antrittsrede vor dem Londoner Regierungssitz seine Ambitionen dar. Seine „Regierung des Dienstes“ stelle sich der „Aufgabe, das Land zu erneuern“. Die Versprechen der Partei sind umfassend. Und sie sind teuer. Die Sozialdemokraten wollen die Staatsverschuldung abbauen, in den öffentlichen Dienst investieren und die Wirtschaft ankurbeln. Mehrere Milliarden Pfund sollen in den NHS fließen, 6.500 staatliche Lehrerstellen geschaffen und 1,5 Millionen Wohnungen in den ersten fünf Jahren der Regierungszeit gebaut werden. Beim Klimaschutz will Labour bis 2030 Netto-Null-Emissionen erreichen, 20 Jahre früher als die Konservativen.
Mit einem milliardenschweren Grünen Wohlstandsfonds will die Regierung in nachhaltige Industrien und Wohnungsbau investieren und tausende Arbeitsplätze kreieren. Das Geld für Waffenlieferungen an die Ukraine soll weiter fließen und das britische Verteidigungsbudget auf 2,5 Prozent des BIP angehoben werden, wenn „der Haushalt es erlaubt“. Arbeitnehmer sollen durch mehr Rechte produktiver werden, private Anleger durch weniger Planungsbeschränkungen zu Investitionen ermutigt werden. Bisher hält die Partei daran fest, die Steuern für den Mittelstand nicht zu erhöhen, dafür werden reiche Ausländer und Privatschulen stärker besteuert. Britische Denkfabriken bezweifeln, dass der Plan der Sozialdemokraten angesichts der aktuellen Haushaltslage aufgehen kann.
Kurz bevor Starmer am Freitag vor die Kameras trat, verabschiedete sich Ex-Premierminister Rishi Sunak vor den anthrazitfarbenen Backsteinwänden der Downing Street von den Briten. Ungewöhnlich bewegt zeigte sich der sonst so abgeklärte Ex-Banker, bei dem sich während seiner Amtszeit viele fragten, warum er überhaupt in die Politik gegangen war. „Es tut mir leid“, rief er den Briten und seinen Parteikollegen zu. Wenige Meter hinter ihm stand seine Frau mit einem Regenschirm bewaffnet, bereit einzuschreiten, falls der unberechenbare Londoner Regen auf ihren Mann niederprasseln sollte. Ende Mai hatte sich Sunak heillos blamiert, als er die Wahl wie ein nasser Hund im strömenden Regen ankündigte, während im Hintergrund ein Aktivist über Lautsprecher den Song „Things Can Only Get Better“ abspielte – die offizielle Hymne von Tony Blairs erfolgreichem Labour-Wahlkampf 1997.
Neuer Parteivorsitzender der Tories soll bis zum Herbst gekürt werden
Die Konservativen stehen nach ihrer Niederlage vor der Frage, in welchem politischen Gewand sie künftig auftreten wollen. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob sie sich von der rechtspopulistischen Reform UK unter Nigel Farage abgrenzen oder deren Positionen adaptieren. Bei den Wahlen hatten die Konservativen viele Wähler an Reform UK verloren. Welche Richtung die Tories einschlagen werden, hängt auch vom neuen Parteivorsitzenden ab, der bis zum Herbst gekürt werden soll. Als aussichtsreichste Kandidatin auf der Parteirechten gilt die ehemalige Handelsministerin und Kulturkampf-Verfechterin Kemi Badenoch. Aber auch dem gemäßigt konservativen ehemaligen Sicherheitsminister Tom Tugendhat werden Chancen eingeräumt.
Wer auch immer die Führung übernimmt, wird vor der mühsamen Aufgabe stehen, die gespaltene Partei zusammenzuhalten. Sollten die Konservativen in die Mitte rücken, besteht die Gefahr, dass rechte Hardliner zu Reform UK abwandern. Der polternde Parteichef Nigel Farage ist der (nicht ganz) stille Sieger der diesjährigen Wahlen. Innerhalb von nur drei Jahren kletterte seine Partei in den Umfragen auf 14 Prozent der Stimmen. In fast 100 Wahlkreisen landeten die Rechtspopulisten auf Platz zwei. Zum Vergleich: Die Konservativen kamen auf 24 Prozent. Aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts reichte es zwar nur für fünf Sitze, doch ist die Partei damit zumindest im Unterhaus vertreten.
Farage war erst vor rund fünf Wochen an die Parteispitze zurückgekehrt und schaffte nun im achten Anlauf den Sprung auf die grünen Bänke in Westminster. Kurz nachdem sein Sieg in seinem Wahlkreis Clacton-On-Sea verkündet worden war, ließ er durchblicken, wohin er seine Partei steuern sieht. „In der politischen Landschaft Großbritanniens gibt es eine Lücke in der rechten Mitte, und meine Aufgabe ist es, diese zu füllen.“
Seine neu gewonnene Bühne in Westminster wird der lautstarke Scharfmacher vor allem dazu nutzen, dem neuen Mitte-Links-Premier in die Parade zu fahren. „Labour, wir sind dir auf den Fersen“, drohte er am Freitag. Mit einem rechtspopulistischen Gegenangebot will er die Partei unter Druck setzen: Einwanderung auf nahe Null reduzieren, Klimaziele aufkündigen und aus internationalen Organisationen austreten – das sind nur einige seiner großspurigen Forderungen. Einen Vorgeschmack auf den künftigen Debattenstil im britischen Unterhaus hat er bereits geliefert. Auf die Rufe eines aufgebrachten Zuschauers während einer Pressekonferenz antwortete er mit blasierter Miene: „Langweilig, langweilig, langweilig!“