Ein Labour-Sieg über die seit 14 Jahren regierende konservative Tory-Partei war seit Langem vorausgesagt worden. Doch dass er so vernichtend für die Tories ausfiel, gibt dem Wahltag des 4. Juli seine herausragende Bedeutung. Dieser Machtwechsel stellt das Ergebnis der letzten Unterhauswahl von 2019 geradezu auf den Kopf: Damals konnte Premierminister Boris Johnson mit einer ähnlichen Mehrheit über Labour triumphieren wie Labour diesmal über die Tories.
Diese Umkehrung des Ergebnisses verrät viel über den Zustand der britischen Politik: Der Wähler sieht alarmierende Richtungslosigkeit vor sich, sein Vertrauen in verlässliches Regieren tendiert gegen null, nur bei 60 Prozent lag diesmal die Wahlbeteiligung. Der neue Premier Keir Starmer übernimmt also nicht nur das Mandat für seine Partei. Er muss von Grund auf die Qualität der politischen Klasse aufbessern, um deren weiterem Verfall vorzubeugen.
Die Geschichte wird den aus dem Amt vertriebenen Konservativen ein glattes Ungenügend für ihre 14 Jahre an der Macht ausstellen. In dieser Zeit haben sie mit fünf Premierministern und sieben Finanzministern ausreichend attestiert, wie dürftig es mit ihrer Befähigung zum Regieren in Wahrheit steht, wie kläglich sie auf das Niveau orientierungsloser Streithähne abgesunken sind, die vor lauter Uneinigkeit in den eigenen Reihen keine Vision mehr für das Land und seine Gesellschaft anzubieten haben.
Wie beeindruckend ist dagegen der Weg des früheren Generalstaatsanwalts Keir Starmer an die Spitze der Labour Partei. Aufräumen war seine Devise, aufräumen mit den sozialistischen Traumtänzen seines Vorgängers Jeremy Corbyn und dessen schleichendem Antisemitismus. Fünf Jahre brauchte Labour, um diesen Irrweg zu beenden und mit Starmers beharrlicher Weichenstellung wieder zu einer wählbaren Partei zu werden.
Zur gleichen Zeit vergaßen die Tories ihre Wahlversprechen von 2019, frönten den alten Privilegien einer obsolet gewordenen Klasse, trieben die Verschuldung und Überteuerung Großbritanniens auf einen Höchststand – und die steuerliche Belastung ebenfalls. Auch bei den Labour-Wählern, die sich 2019 aus kurzfristiger Anhänglichkeit zu Johnson zur Wahl der Tories hatten überreden lassen, wuchs bald die große Wut. Selbst aus dem Brexit wussten die Tories keine Funken mehr zu schlagen.
Das erlaubte es dem Rechtspopulisten Nigel Farage, als wahrer Lordsiegelbewahrer ihrer nationalen Brexit-Überheblichkeit aufzutreten und sich als treuer Bewahrer ihrer alten konservativen Werte zu gerieren, die an der Tory-Spitze vor lauter Streitereien aus dem Blickfeld geraten waren. Von David Cameron zu Theresa May, zu Boris Johnson, zu Liz Truss, zu Rishi Sunak.
Farages Partei „Reform“, erst vor vier Jahren aus der Taufe gehoben, rückte jetzt auf Anhieb in vielen Wahlkreisen mit ihrem Widerstand gegen die klassischen Konservativen in Siegernähe – und Nigel Farage erwarb diesmal, im achten Anlauf, seinen heiß begehrten Unterhaussitz, mit dem er die Korrosion der Tories vorantreiben wird.
Die Abwahl der Konservativen, von denen es einst hieß, sie seien die natürliche Regierungspartei, ist total: Sie sind eindeutig von einer runderneuerten Labour-Partei abgelöst worden und von deren Anführer, der die vernünftige Mitte repräsentiert. Sie ringen gleichzeitig mit einem Nigel Farage und seinem Flirt mit Donald Trump um die Frage, wer sie überhaupt noch sind im zerklüfteten Ensemble heutiger Politik. Das kann sie auf Jahre aus der Macht drängen, die sie, als sie sie noch hatten, kraftlos verspielten.