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  3. Röhm-Putsch: Hitler „packte den Lustknaben und schmiss ihn an die Wand“

Geschichte „Röhm-Putsch“

Gegen den Mann, der mit Schlesiens SA-Chef im Bett lag, wurde Hitler sogar gewalttätig

Am 30. Juni 1934 suchte Hitler eine radikale Lösung für die Krise seines Regimes. Als Feindbild wählte er den machtbewussten SA-Chef und seine Entourage. Erstaunlicherweise war der angebliche „Röhm-Putsch“ bis vor Kurzem schlecht erforscht.
Leitender Redakteur Geschichte
Ernst Röhm, der Stabschef der SA, redet auf dem Reichsparteitag 1933 in Nürnberg mit Hitler Ernst Röhm, der Stabschef der SA, redet auf dem Reichsparteitag 1933 in Nürnberg mit Hitler
Ernst Röhm, der Stabschef der SA, redet auf dem Reichsparteitag 1933 in Nürnberg mit Hitler
Quelle: picture alliance / SZ Photo

Friedlicher als Bad Wiessee am Tegernsee kann ein Ort kaum sein. In der Morgensonne des 30. Juni 1934 wirkt das Kurheim Hanselbauer, eine große Pension direkt an der Seepromenade, geradezu idyllisch. Es ist Samstag, ein warmer Sommertag bricht an; nur über der Zugspitze im Süden hängen dichte Wolken.

Gegen 6.45 Uhr früh fahren mehrere Limousinen, darunter ein schwerer Mercedes, langsam vor das Haus mit drei Obergeschossen und breit auskragendem Dach. Leise entsteigen den Autos Männer, ein gutes halbes Dutzend, teils in Uniform, teils in Zivil, und eilen ins Hanselbauer. Ihr Ziel ist der erste Stock, genauer: die beste Unterkunft der Pension, ein Appartement mit zwei Räumen. Nach einem kurzen Klopfen sagt einer von ihnen mit verstellter Stimme: „Meldung aus München“. Aus dem Inneren ist in vertrautem Tonfall die Antwort zu hören: „Komm’ doch rein, die Tür ist ja offen.“

Das lässt sich Adolf Hitler nicht zweimal sagen. Er stürmt in das Zimmer und auf den im Bett liegenden Stabschef der SA Ernst Röhm zu. „Du bist verhaftet!“, herrscht er ihn an; der SA-Chef von Hannover, Viktor Lutze, Propagandaminister Joseph Goebbels und zwei Kriminalpolizisten mit entsicherten Dienstwaffen direkt hinter dem Reichskanzler werden Augenzeugen. Hitler hat entweder selbst eine Pistole in der Hand oder eine Reitpeitsche. Völlig überrascht antwortet Röhm: „Heil, mein Führer!“, dann steht er auf und zieht sich an. Er ist offenbar gefasst; ertappt oder ernsthaft gefährdet fühlt er sich nicht: „Röhm behält Haltung“, notiert Goebbels einige Stunden später in seine Tagebuch-Kladde.

Die Pension Hanslbauer in Bad Wiessee in den 1930er-Jahren, Schauplatz der Verhaftung von SA-Stabschef Ernst Röhm und seiner Entourage
Die Pension Hanslbauer in Bad Wiessee in den 1930er-Jahren, Schauplatz der Verhaftung von SA-Stabschef Ernst Röhm und seiner Entourage
Quelle: picture alliance / SZ Photo

Hitler geht in dem geräumigen Zimmer mit weiten Schritten auf und ab, denn er fühlt sich persönlich verraten und glaubt, nur er allein könne Röhm „dafür zur Verantwortung ziehen“. Um das „Unheil überhaupt noch zu verhindern“, habe „blitzschnell gehandelt“ werden müssen, erinnert sich Hitler zwei Wochen später bei seiner Rechtfertigung im Reichstag. Nur ein „rücksichtsloses und blutiges Zugreifen“ hält er für akzeptabel – eine radikale „Lösung“, wie er sie stets bevorzugt.

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Gleich darauf wendet er sich dem gegenüberliegenden Zimmer zu, in dem Edmund Heines wohnt, der SA-Chef von Schlesien und Breslauer Polizeipräsident. „Dort wird das Öffnen befohlen, und nach kurzer Zeit stehen wir vor Heines und einem anderen Mann, der in demselben Zimmer geschlafen hat“, berichtet Viktor Lutze: „Auf die Eröffnung seiner Verhaftung lamentiert Heines.“ Die Kriminalbeamten nehmen ihn trotzdem fest.

Gegen den jungen Mann, der mit Heines im Bett gelegen hat, wird Hitler sogar gewalttätig. „Nie hat der Führer sich an einem Menschen vergriffen“, erzählt Max Amann, NSDAP-Verleger und Verwalter des persönlichen Vermögens Hitlers, wenig später Alfred Rosenberg, dem Chefredakteur der Parteizeitung „Völkischer Beobachter“. Jetzt aber habe er „den Lustknaben gepackt und voller Ekel an die Wand geschmissen“. Auch anderen gegenüber gibt Hitler sich empört: „Unerhört und schamlos“ sei gewesen, was er in Heines’ Zimmer habe sehen müssen, sagt er wenig später zu einem Oberstleutnant der Reichswehr: „So schamlos, wie ich es nie in meinem Leben für möglich gehalten hätte“.

Bei dem jungen Mann handelt es sich um den knapp 21 Jahre alten Breslauer Erich Schiewek, der am Vortag kurzfristig als Heines’ Begleiter eingesprungen ist und vorher keine Beziehung zum SA-Chef seiner Heimatstadt gehabt hat. Er wird mit anderen festgenommen SA-Führern in die Waschküche geführt und muss dort unter Bewachung warten.

Röhm dagegen, inzwischen in einen blauen Zivilanzug gekleidet, setzt sich im Vestibül der Pension in einen Sessel, raucht eine Zigarette und bestellt beim Wirt Kaffee. „Hitler blickt ihn verbissen an, sagt aber kein Wort“, sieht Erich Kempka, der persönliche Chauffeur des Reichskanzlers. Der verhaftete SA-Chef gibt sich selbstsicher: „Wegen Hochverrat kann man mir nichts.“ Offenbar betrachtet er die Ereignisse des Morgens als Missverständnis, das sich bald aufklären werde.

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Ein Irrtum. Denn in der Pension Hanselbauer beginnt am Morgen des 30. Juni 1934 der Schlag gegen einen vermeintlichen Aufstand der nationalsozialistischen Miliz SA (für „Sturmabteilung“, aber längst zum Eigennamen geronnen). Als „Röhm-Putsch“ geht die mehrtägige systematische Mordaktion in die Geschichte ein.

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Mit ihren je nach Zählweise etwa 90 Todesopfern (darunter Röhm, Heines und Schwiewek) ist sie gegenüber den zahlreichen anderen Verbrechen des Dritten Reiches auf den ersten Blick zwar vernachlässigbar. Trotzdem markiert sie gegen eine wichtige Zäsur auf dem Weg zur totalitären Diktatur. Denn die Morde an diesem Sommerwochenende 1934 beenden eine Regimekrise wegen mangelnden wirtschaftlichen Erfolgs, die Hitlers seit dem 30. Januar 1933 etablierte Herrschaft über Deutschland durchaus hätte gefährden können. Der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg wäre der Einzige gewesen, der – wenn überhaupt – die NS-Regierung noch hätte absetzen können. Doch er akzeptiert das Vorgehen seines Reichskanzlers.

Quellen sträflich unterschätzt

Umso erstaunlicher ist, dass ausgerechnet die Mordaktion vom 30. Juni bis 2. Juli 1934 bisher vergleichsweise schlecht erforscht war. Und das, obwohl dieser Verbrechenskomplex ungewöhnlich früh untersucht wurde: Schon Anfang 1953 erschien eine vorwiegend auf Zeitzeugen-Erinnerungen beruhende Darstellung, und im folgenden Jahr brachte der Bundestag eine ähnlich aufgebaute Studie in seiner Zeitschrift heraus.

Doch diese beiden kurzen Aufsätze blieben bis 2024 die wesentlichen Beiträge der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft zum vermeintlichen Aufstand der SA. Auf sie bezogen sich nicht nur die meisten Autoren der seither entstandenen mehr als hundert Hitler-Biografien, sondern auch die Verfasser aller grundlegenden Bücher über das NS-Regime. Ein Band des „Spiegel“-Geschichtsredakteurs Heinz Höhne von 1984 füllte diese Lücke nicht. Erst kurz vor dem 90. Jahrestag des „Röhm-Putsches“ ändert sich das mit neuen Büchern.

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Diese lange Zurückhaltung ist unverständlich, da die Quellenlage seit Jahrzehnten vergleichsweise gut und jüngst immer besser geworden ist. Zwar überstanden nur wenige Originalunterlagen eine bis Herbst 1934 gezielt durchgeführte Vertuschungsaktion der Gestapo. Doch Ermittlungen verschiedener westdeutscher Staatsanwaltschaften in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre ergaben unzählige Details, die oft aus der Distanz von nur anderthalb bis zwei Jahrzehnten gesichert werden konnten. 61 Bände einschlägige Bestände mit tausenden Blatt zum „Röhm-Putsch“ liegen seit Langem frei zugänglich im Staatsarchiv München.

Oft sträflich unterschätzt als Quellen werden die Berichte der offiziell akkreditierten Diplomaten. Gerade in Sachen „Röhm-Putsch“ enthalten sie wichtige Informationen. Der Band der Serie „Foreign Relations of the United States“ erschien schon 1951, jener der „Documents on British foreign policy“ immerhin 1957; dagegen sind die „Documents diplomatiques suisses“ erst seit 1989 und die „Documenti diplomatici italiani“ seit 1990 verfügbar.

Wie immer bei Forschungen über die NS-Führung und ihr Handeln von größter Bedeutung sind die täglichen Aufzeichnungen von Goebbels, die für das Jahr 1934 seit 2006 vorliegen. Bereits seit 1956/57 gab es Auszüge aus den Aufzeichnungen von Rosenberg und Lutze zum „Röhm-Putsch“, allerdings zunächst auf fragwürdiger Textgrundlage. Erst 2015 und 2023 stehen sie in seriösen Editionen zur Verfügung.

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Quelle: N24 Doku

Zudem hat in jüngster Zeit die Digitalisierung eine Fülle bisher nicht oder kaum zugänglicher Quellen für die praktische Forschung leicht zugänglich gemacht. Dazu gehören etwa Aktenbände des Reichsfinanzministeriums über die Entschädigung von Angehörigen der Opfer der Mordaktion und Papiere des Auswärtigen Amtes zu den Auswirkungen der „Röhm-Affäre“ im Ausland. Das Institut für Zeitgeschichte in München hat parallel jene Bestände gescannt, die Grundlage der beiden 1953/54 erschienenen frühen Beiträge waren.

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Schließlich ist seit Kurzem auch in Deutschland die Digitalisierung historischer Zeitungen in Gang gekommen – etwa zwei Jahrzehnte nach den USA und mehr als zehn Jahre nach Frankreich, Österreich oder der Schweiz. Aus buchstäblich hunderten Zeitungstiteln kann man inzwischen das zur jeweiligen Zeit aktuelle Wissen erschließen. Das junge Instrument spielt seltsamerweise in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft noch eine marginale Rolle.

Gestützt auf diese Fülle von Material lassen sich Vorgeschichte, Verlauf und Folgen des angeblichen „Röhm-Putsches“ heute genauer denn je nachzeichnen. Zugleich zeigt das Beispiel, dass selbst in der vermeintlich „überforschten“ Zeitgeschichte immer wieder neue und spannende Aspekte offenbaren, wenn man sich denn die Mühe macht, nach den entsprechenden Quellen zu suchen.

WELTGeschichte-Redakteur Sven Felix Kellerhoff hat zum Thema das Buch „,Röhm-Putsch!’ 1934. Hitlers erste Mordaktion“ vorgelegt (Herder Verlag Freiburg. 272 S., 24 Euro).

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