Den Verschwörern lief die Zeit davon. Um ihren Plan umzusetzen, brauchten sie unbedingt den Reichspräsidenten. Nur solange Paul von Hindenburg lebte, hatten die Männer im Umfeld des Vizekanzlers Franz von Papen überhaupt Aussicht auf Erfolg. Doch das 86-jährige Staatsoberhaupt war längst greise und hatte sich Anfang Juni 1934 auf sein Landgut nach Ostpreußen zurückgezogen – zum Sterben?
Hindenburgs Aufenthalt in Ostpreußen war für die Männer aus dem Stab des Vizekanzlers, die sich selbst als „Opposition innerhalb der Regierung“ verstanden, ein Problem. Seit Wochen schon fachten Franz von Papens Redenschreiber Edgar Julius Jung, der erste Adjutant Fritz Günther von Tschirschky, der Leiter der Pressestelle Herbert von Bose und einige weitere NS-Gegner in dem 1933 neu geschaffenen Amt bewusst die ohnehin vorhandene Krisenstimmung in Berlin an. Sie wollten eine Situation herbeiführen, in der das Staatsoberhaupt seine Befugnisse als Oberbefehlshaber der Reichswehr nutzen und aktiv in die Politik eingreifen musste.
Ideal dafür schien ein offener Konflikt zwischen den verschiedenen Machtzirkeln innerhalb der Hitler-Bewegung, zwischen NSDAP, SA und SS, die seit der Übernahme der Politischen Polizei im gesamten Reich durch Heinrich Himmler noch selbstbewusster auftrat. Wenn der Kreis um Jung so eine Auseinandersetzung provozieren konnte, dann bestand die Chance, dass Hindenburg eingriff. Denn noch mehr als die Niederungen der Tagespolitik verabscheute der Reichspräsident Bürgerkrieg und überhaupt jede Form öffentlicher Unordnung.
Es war möglich, dass er in so einem Fall mittels des Artikels 48 der Reichsverfassung eine Militärdiktatur etablieren und die braune Bewegung in die Schranken weisen würde. Gegen klare Befehle des in Deutschland allgemein bewunderten Feldmarschalls des Weltkriegs aber würden weder die Reichswehr noch Hitler verstoßen.
Damit dieses Kalkül aufging, war zweierlei nötig: erstens eine offene Rebellion der Hindenburg ohnehin verhassten SA und zweitens der unmittelbare Zugang des Vizekanzlers zum Reichspräsidenten. Jung, der Kopf der Verschwörer, erwartete, das Büro des Reichspräsidenten werde Papen dieses Privileg nicht verweigern – immerhin war der ehemalige Reichskanzler während der Regierungsbildung im Januar 1933 als „homo regius“ des Staatsoberhaupts tätig geworden, als sein Bevollmächtigter.
Auslöser sollte eine Rede sein, die Edgar Julius Jung seinen einfältigen Chef Papen halten ließ; der Vizekanzler selbst war an der Entstehung nahezu unbeteiligt. Die Ansprache sollte Hitler zwingen, „sich für oder gegen uns zu entscheiden“, meinte Tschirschky: Entweder für die Eliten des Staates einschließlich des Heeres, was zum Bruch mit Röhm und zumindest Teilen der SA führen musste. Oder gegen Papen, die Reaktionäre und die Reichswehr, was Hindenburg in eine direkte Konfrontation mit dem Kanzler bringen würde.
Die Überlegung war nicht schlecht, denn was auch geschah: Das Ziel würde in beiden angenommenen Fällen erreicht – sofern der Reichspräsident noch lebte und so reagierte, wie die Verschwörer erwarteten. Nach monatelangen Vorbereitungen war Jung Ende Mai 1934 mit dem Text weitgehend fertig; er informierte einige NS-kritische Bekannte und ließ sie den Redeentwurf sogar vorab lesen. Als Ort hatte er die hessische Universitätsstadt Marburg ausgemacht, einst eine Hochburg der Deutschnationalen, in der – so seine Annahme – die Studentenschaft dem Nationalsozialismus noch vergleichsweise ablehnend gegenüberstand.
Durch die gesundheitsbedingte Abreise Hindenburgs nach Neudeck erschwerte sich zwar Papens Zugang zum Reichspräsidenten; andererseits würde sich eine weitere Gelegenheit zu Lebzeiten des Staatsoberhaupts vielleicht gar nicht mehr ergeben. Jung, Bose, Tschirschky und die anderen beschlossen deshalb, ihren Plan umzusetzen.
Die Rede musste möglichst weit verbreitet werden, um Wirkung zu entfalten. Deshalb ließen die Verschwörer tausend Exemplare des Textes als 16-seitigen Sonderdruck herstellen; viele davon wurden am 16. und 17. Juni an Vertrauensleute, internationale Korrespondenten und sogar einzelne Diplomaten in der Reichshauptstadt verteilt. Für die deutsche Presse erstellte man eine sechsseitige Zusammenfassung und hektografierte sie. Am wichtigsten aber war, die Rede über alle Reichssender live im Hörfunk zu verbreiten. Allerdings strahlte, angeblich aus technischen Gründen, nur der Reichssender Frankfurt Papens Ansprache aus.
Am Sonntag, dem 17. Juni 1934, begann Franz von Papen gegen 12.15 Uhr in der Alten Aula der Philipps-Universität Marburg mit seiner Rede: „Die Stimmen, die fordern, dass ich grundsätzlich Stellung nehme zum deutschen Zeitgeschehen und zum deutschen Zustande, werden immer zahlreicher und drängender.“ Man erwarte das, fuhr Papen unpersönlich fort, denn er habe einen „so entscheidenden Anteil an der deutschen Entwicklung genommen, dass mir die Pflicht obliege, diese Entwicklung schärfer zu beobachten als die meisten anderen Deutschen“.
Nach der ziemlich anmaßenden Einleitung redete Papen weiter kaum verbrämt Klartext. Die deutsche Presse habe „kein Gesicht mehr“, wie Propagandaminister Joseph Goebbels selbst eingeräumt habe. Korruption habe sich „eingenistet“. Edgar Jung hatte Sätze eingebaut, die seinen einfältigen Chef offenbar schützen sollten: „Wenn das Ausland behauptet, in deutschen Landen sei die Freiheit gestorben, so soll es durch die Offenheit meiner Darlegungen darüber belehrt werden, dass die deutsche Regierung es sich leisten kann, von sich aus brennende Fragen der Nation zur Debatte zu stellen.“
Nach einigen fast philosophischen Ausführungen, die für eine Ansprache in einer Universität gewiss angemessen waren, die Papen selbst aber kaum verstand, kehrte er zurück zur Realität in Deutschland im Juni 1934: „Das Gerede von der zweiten Welle, welche die Revolution vollenden werde“, wolle kein Ende nehmen. Es sei aber nicht ersichtlich, „wohin diese zweite Welle führen“ solle, verkündete Papen: „Kein Volk kann sich den ewigen Aufstand von unten leisten.“ Das zielte direkt auf die SA und Ernst Röhms Schlagwort von der „zweiten Revolution“; an dieser Stelle verließen zwei Marburger SA-Führer aus Protest den Raum.
Das rund 600-köpfige Publikum bedachte die Ansprache mit lebhaftem Applaus, und Franz von Papen genoss den Erfolg. Es schlossen sich ein Festessen und eine Stadtführung durch Marburg an; zum Abschluss des Nachmittags badete der Vizekanzler mit seinen Begleitern noch in der neuen Schwimmhalle der Universität.
Schon unmittelbar nach der Rede eilte ein Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes Marburg zum nächsten Postamt und gab ein Telegramm an die Reichskanzlei auf, in dem er über Papens Rede berichtete. Der Oberbürgermeister der Universitätsstadt, der Nationalsozialist Ernst Scheller, erstattete telefonisch Bericht. Den Inhalt der Rede nannte er „vernichtend“; es sei kaum ein positives Wort gefallen, sondern nur Kritik geübt worden. Beim Festessen blieben die Plätze frei, die für Funktionäre der NSDAP, der SA und anderer Gliederungen der Bewegung vorgesehen waren.
Adolf Hitler erfuhr in Gera von Papens Rede – und reagierte. Zunächst wetterte er in seiner Rede auf einem Gautreffen der NSDAP gegen die „Meckerer“, die sich gegen den Nationalsozialismus stellten. Dann machte er einen durchaus überraschenden Schwenk, denn ohne einen Namen zu nennen, sprach er nun eine einzelne Person an: „Lächerlich, wenn solch ein kleiner Wurm gegen eine solch gewaltige Erneuerung eines Volkes ankämpfen will! Lächerlich, wenn solch ein kleiner Zwerg sich einbildet, durch ein paar Redensarten die gigantische Erneuerung des Volkes hemmen zu können!“ Das zielte direkt auf Papen und seinen Auftritt in Marburg.
Der Reichskanzler ordnete an, die Verbreitung der Rede in deutschen Zeitungen zu unterbinden. Nur die „Frankfurter Zeitung“ brachte große Auszüge von Papens Ansprache in ihrer Abendausgabe vom 17. Juni 1934, deren Druck bereits lief, als das Verbot aus Berlin eintraf. Fast alle anderen Blätter verschwiegen Papens Auftritt entweder ganz oder berichteten zwar, vermieden aber nähere Angaben über den Inhalt der Rede; die Neue Mannheimer Zeitung mit der Überschrift „Papen-Rede von historischer Bedeutung“ blieb eine Ausnahme.
Geheimhalten ließ sich die öffentlich vorgetragene Provokation natürlich trotzdem nicht – schon wegen der sorgfältigen Vorbereitung von Jung, Bose, Tschirschky, und den anderen. Die Gestapo besetzte zwar noch am Sonntagabend die Druckerei, die den Text als Broschüre hergestellt hatte, doch der Großteil der Auflage war bereits verteilt. Die meisten wichtigen internationalen Zeitungen, die über Deutschland berichteten, griffen den Vorgang auf. „Papen stützt das Recht, Nazis zu kritisieren“, lautete eine Überschrift auf der Titelseite der „New York Times“, während die „Washington Post“ meldete: „Nazi-Herrschaft kühn von Papen kritisiert“.
Über die Unterdrückung seiner Ansprache war Papen erbost und suchte die Aussprache mit Hitler, bot sogar seinen Rücktritt an. Doch der Reichskanzler ließ sich auf keine Konfrontation ein, solange er nicht wusste, wie sich Hindenburg zur Marburger Rede stellte. Unmittelbar nach dem Gespräch mit Papen schickte er Walther Funk, den Staatssekretär im Propagandaministerium, nach Neudeck, um die Stimmung des Reichspräsidenten zu erkunden. Hindenburg ließ seinen ehemaligen Vertrauten kalt fallen: „Wenn Papen keine Disziplin hält, dann muss er eben die Konsequenzen daraus ziehen“, erinnerte sich Funk.
Daraufhin flog Hitler am 21. Juni 1934 selbst zu Hindenburg nach Neudeck. Nach dem Gespräch entschied er sich, die Krise seines Regimes gewaltsam zu „lösen“. So wurde Franz von Papens Rede in Marburg zum direkten Auslöser des blutigen Schlages gegen die SA, der als (vermeintlicher) „Röhm-Putsch“ bekannt wurde.
Neben zahlreichen SA-Führern ermordeten SS-Leute in dessen Verlauf Edgar Julius Jung und Herbert von Bose; Fritz Günther von Tschirschky und andere Mitarbeiter von Papens Büro wurden verhaftet, der Vizekanzler selbst unter Hausarrest gestellt. Vier Wochen später schob Hitler seinen ungeliebten Stellvertreter, den „Wurm“ und „Zwerg“, als Botschafter nach Wien ab, wohin ihn Tschirschky begleiten durfte; so entging er längerer KZ-Haft und überlebte.
WELTGeschichte-Redakteur Sven Felix Kellerhoff hat zum Thema das Buch „,Röhm-Putsch!’ 1934. Hitlers erste Mordaktion“ vorgelegt (Herder Verlag Freiburg. 272 S., 24 Euro).