Die Formel „Deine Ehre heißt Treue!“ gehört zu den weithin bekannten Zitaten aus der Frühzeit des Nationalsozialismus. Angeblich stammte sie aus einem Dankesbrief, den NSDAP-Chef Adolf Hitler im April 1931 geschrieben haben soll. Darin, so die Selbstdarstellung der braunen Bewegung, habe sich der „Führer“ bei Berlins SS-Chef Kurt Daluege für dessen Unterstützung während einer Revolte zahlreicher SA-Männer bedankt, die sogar die NSDAP-Gauleitung der Reichshauptstadt besetzt und verwüstet hatten. So oder so ähnlich steht es in fast der gesamten Fachliteratur über den Aufstieg der NSDAP und der SS, ebenso in vielen Hitler-Biografien.
Bei Wikipedia heißt es sogar (Stand 4. Oktober 2021 um 9.40 Uhr): „Einheiten der Berliner Sturmabteilung (SA) unter Walther Stennes hatten im März 1931 versucht, die Berliner Gauleitung zu stürmen. Während der Gauleiter Joseph Goebbels und dessen Mitarbeiter dem SA-Mob entkommen konnten, versuchte eine Handvoll SS-Leute, die SA aufzuhalten und wurde von diesen zusammengeschlagen. Damit hatte die Berliner SS unter ihrem Kommandeur Kurt Daluege in Hitlers Augen eine ,unbeirrbare Loyalität gegenüber dem Führer’ bewiesen. Hitler ließ Daluege ein Dankesschreiben vom 1. April 1931 zukommen, in dem Hitler unter anderem auch den Satz ,SS-Mann, deine Ehre heißt Treue!’ formulierte.“ Daran stimmt nun fast gar nichts – die Daten nicht, die Beschreibung des Vorganges nicht, und den angeblichen Brief gab es wohl auch nicht.
Nicht nur existiert in den durchaus reichlich erhaltenen Quellen weder ein Original noch eine Abschrift, es wurde auch bereits 1933 parteiintern über den Ursprung der Formel „Deine Ehre heißt Treue!“ gestritten – bereits nach rund zwei Jahren also gab es keinen Beleg für den angeblichen Brief. Unvorstellbar, dass Daluege so ein persönliches Schreiben Hitlers weggeworfen hätte.
Diese Einsicht ist der Ausgangspunkt für eine Neubewertung der Ereignisse im Frühjahr 1931 durch den jungen Potsdamer Historiker Sascha Steger. Sein Aufsatz „Kurt Daluege, die Stennes-Revolten 1930/31 und der Aufstieg der SS“ erschien in den renommierten „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“. Steger setzt der NSDAP- und SS-Darstellung der Ereignisse 1930/31 seine durch zahlreiche Funde in verschiedenen Archiven gewonnenen Erkenntnissen entgegen. So kann er eine nach mehr als 90 Jahren immer noch weiter wirkende Legende dekonstruieren. Denn im Gegensatz zu dieser „Heldenerzählung“ war es keineswegs die SS, die die „Revolte zusammenhauen konnte“, wie Daluege selbst behauptete. Vielmehr ging der Berliner SS-Führer, ein bemerkenswerter Totalkontrast zum eigenen Anspruch, Anfang April 1931 betont friedlich gegen die rebellierenden SA-Leute vor.
Wichtig ist das, weil die Rolle der SS für den Nationalsozialismus absolut zentral war. Dabei prägte enthemmte Gewalt ihren Aufstieg: beim teilweisen Aufbau und der teilweisen Übernahme des KZ-Systems 1933/34, beim mit rund 100 Morden blutigen sogenannten Röhm-Putsch Ende Juni 1934, schließlich im Zweiten Weltkrieg beim Ausbau der Waffen-SS als Konkurrenz zur Wehrmacht und natürlich beim Mord an sechs Millionen Juden: Stets dominierte Brutalität das Vorgehen von Himmlers „Schwarzem Orden“. Nur beim Ausgangspunkt dieser düsteren Karriere war es anders: Ausgerechnet bei dem Ereignis, das in der NS-Selbstdarstellung zum Motto „Meine Ehre heißt Treue“ kondensierte, konnte von Gewalt gerade keine Rede sein.
Spannungen zwischen der von meist jungen Frontveteranen des Weltkrieges dominierten Sturmabteilung (SA) und den ideologisch genauso extremen, aber oft älteren sonstigen Mitgliedern der NSDAP hatte es in den ausgehenden 1920er-Jahren immer wieder gegeben. Zum ersten ganz großen Eklat kam es Ende August 1930, als Walther Stennes, der SA-Chef Ostdeutschlands, im NS-Kauderwelsch „OSAF Ost“ genannt, Ernst machte und „als Gegenleistung für die kräftezehrende Wahlkampfarbeit drei Reichstagssitze für SA-Vertreter aus seinem Befehlsbereich“ verlangte. Mit anderen Worten: Stennes wollte an die sprichwörtlichen Fleischtöpfe, auch wenn die Aufwandsentschädigung für Abgeordnete seinerzeit noch erheblich geringer ausfiel als heute.
Als Hitler ablehnte, verkündete Stennes zunächst einen Streik der Berliner SA; man werde Wahlkampfveranstaltungen der NSDAP nicht mehr schützen. Anschließend überfiel am 30. August 1930 ein SA-Trupp das Büro von Gauleiter Joseph Goebbels, der zu dieser Zeit selbst in Breslau weilte. Die dortigen Wachen, fünf Männer der Schutzstaffel (SS) genannten Elite der SA, baten die Berliner Polizei um Hilfe – und die Reichshauptstadt lachte über die braune Bewegung, deren Anhänger sich gegenseitig verprügelten.
Um den Erfolg bei den bevorstehenden Reichstagswahlen am 14. September 1930 nicht zu gefährden, musste Hitler nachgeben: Zwar bekam die SA nicht die drei verlangten Reichstagsmandate zugesagt, aber dafür deutlich mehr Geld aus der stets klammen Parteikasse. Die SS hatte in diesem Zusammenhang keine nennenswerte Rolle gespielt, ist eine der neuen Erkenntnisse von Sascha Steger, gewonnen aus Akten der damals demokratischen Berliner Polizei.
Weder ließ Daluege (der zu diesem Zeitpunkt auch noch gar nicht Berliner SS-Chef war) die Stennes-Anhänger ausspähen, noch setzten Hitler und Goebbels auf Konfrontation – im Gegenteil: Der Anführer der Berliner SS, ein gewisser Kurt Wege, wurde sogar wegen seines zu konfrontativen Kurses gegen Stennes abgesetzt und zum 1. März 1931 durch Daluege ersetzt.
Doch das Elitegehabe der SS sorgte bei der Stennes-SA für Ärger. Die braunen Schlägertrupps schmähten ihre damals ebenfalls mit Braunhemd, aber schwarzen Hosen, Mützen und Krawatten bekleideten Parteigenossen als „Sonntagssoldaten“ und warfen ihnen vor, sich bei „Kloppereien … in die hinterste Ecke zu verkriechen und dort Versteck zu spielen“. Typisch für das Selbstverständnis der SA waren Bemerkungen wie diese: „Der Name Schutzstaffel rührt allem Anschein nach daher, dass ihre Mitglieder bei tatsächlicher Fühlungnahme mit dem Gegner, rückwärts staffeln, um sich zu schützen.“
Eine Eskalation des Konflikts war absehbar. Zum Auslöser wurde, wie Sascha Steger darlegt, ausgerechnet der Versuch der Reichsregierung, die Gewalt auf den Straßen unter Kontrolle zu bekommen. Am 28. März 1931 nämlich erließ Reichspräsident Paul von Hindenburg die Notverordnung „zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen“. Durch sie konnten Gruppen, die zu Gewalt aufriefen, aufgelöst werden. Weil aber Stennes seinen Kurs nicht aufgeben wollte, musste die NSDAP ein erneutes Parteiverbot fürchten.
Also wurde er zu einem Treffen nach Weimar beordert, bei dem Hitler ihn als OSAF Ost absetzen und nach München wegbefördern wollte. Weil Informanten das durchstachen, erfuhr Stennes davon – und sah rot (genauer: braun). Er ließ abermals die Berliner NSDAP-Geschäftsstelle und zusätzlich die Redaktion von Goebbels’ Kampfblatt „Der Angriff“ besetzen.
Gewaltsam konnte Hitler dagegen nicht vorgehen, denn das hätte sofort eine Reaktion der Reichsregierung nach der gerade verabschiedeten Notverordnung ausgelöst. Also gab er Daluege eine Vollmacht, Stennes durch Verhandlungen und, falls nötig, durch Rechtsmittel aus den besetzten Räumen zu entfernen. Tatsächlich fügten sich die rebellierenden SA-Leute, nachdem Daluege ihnen am 2. April 1931 androhte, die Berliner Polizei zu rufen.
Der Siegeszug der SS begann, ganz im Gegensatz zu ihrem Selbstverständnis, friedlich. Also wurde dem tatsächlichen, nun aus zeitgenössischen Polizeiberichten rekonstruierten Geschehen ein martialischer Mantel verpasst, inklusive „Revolte zusammenhauen“ und der Formel „Meine Ehre heißt Treue“. Es war das einzige Mal, dass die SS sich Gewalttätigkeit andichten musste.
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Dieser Artikel wurde erstmals im Oktober 2021 veröffentlicht.