Es geht um das Jahr 2006. Die meisten haben in der Retrospektive das Sommermärchen im Kopf. Die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland, die mit einem Traumtor von Philipp Lahm gegen Costa Rica begann und mit dem nackten Oberkörper von Bastian Schweinsteiger beim Torjubel zum 3:0 gegen Portugal im Spiel um Platz drei in Stuttgart mit einer Gelben Karte endete.
Es gibt aber einige wenige Menschen, die darin etwas Problematisches sehen. Nicht im käseweißen Schweini-Sixpack, sondern im angeblichen Party-Patriotismus, der 2006 salonfähig wurde und – so erklärt es die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in einem Video – den Weg für Pegida und das Erstarken der neuen Rechten ebnete.
Aber von vorn. In einem Video der bpb erklärt eine aparte Moderatorin mit Friedrichshainer Problem-Pony: „Wir sind im Jahr 2006.“ Deutschland, so die Moderatorin, kenne man in der Welt zu diesem Zeitpunkt vor allem für zwei angefangene Weltkriege. Und vielleicht noch für den Mauerfall.
Dann erscheint US-Präsident John F. Kennedy im Video mit seinem Zitat „Ich bin ein Berliner“. Was Kennedy in dem Video zu suchen hat, lässt sich eher als künstlerische Freiheit auslegen. Bekanntermaßen hat Kennedy es nicht mehr bis zum Mauerfall geschafft. Wo ist die politische Bildung, wenn man sie braucht? Egal, weiter im Video.
Schnell kommt das Video aus der Reihe „Politik raus aus den Stadien“ zum Punkt: 2006 entstand ein neues Phänomen namens „Party-Patriotismus“. Die Hemmungen fielen. Schminkstifte aus den Drogerien in Deutschland-Fahnen, kondom-ähnliche Deutschland-Socken über den Autoseitenspiegeln und das Mitfiebern beim Elfmeterschießen gegen Argentinien ließen die Hemmungen endgültig fallen.
Logisch, dass daraufhin die „Patriotismus-Afterhour“ knapp zehn Jahre später folgte: Pegida! Der Rechtsruck in Deutschland wäre ohne WM nicht möglich gewesen, so die Moderatorin.
Plötzlich soll es nie um den Sport gegangen sein
Da die Bundeszentrale für politische Bildung so etwas nicht einfach so behauptet, beruft sie sich auf einen Experten: den Politikwissenschaftler Clemens Heni. Dieser erklärte nämlich 2019 in einem Interview mit der „Frankfurter Rundschau“: „Die Deutschland-Fahne bei der WM hat eine unglaubliche Bedeutung für das Zusammenschweißen von atomisierten Einzelnen, die sich zu großen Teilen gar nicht für Fußball interessiert haben.“ Es ging also nie um Sport, sondern um nationale Identität. Alles klar.
Die WM, was viele außer Heni eben nicht wissen, war von Anfang an ein „geplantes deutsch-nationales Event“. Dies macht er fest an einer Kabinenansprache von Jürgen Klinsmann vor dem Gruppenspiel gegen Polen.
Kalifornien-Klinsi ließ sich zu der Aussage hinreißen: „Das ist unser Spiel. Das lassen wir uns von niemandem nehmen! Schon gar nicht von Polen. Die stehen mit dem Rücken zur Wand, und wir knallen sie durch die Wand hindurch!“ Daraufhin stürmten David Odonkor und Oliver Neuville los, und Neuville schoss das 1:0.
Und weil bekanntlich dieses geplante deutsch-nationale Event so gut lief, machte selbst das ZDF munter weiter. Vier Jahre später bei der WM in Südafrika sprach die Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein nach dem Tor des kritisierten Miroslav Klose gegen Australien davon, dass das für den Stürmer „ein innerer Reichsparteitag“ sein müsse.
Als politisch interessierte Bürgerin wundert man sich allerdings, dass in Henis Ausführungen Merkels radikalisierende Kabinenbesuche oder ihre provokant-nationalistische Deutschland-Kette fehlen. Das Video endet so: „Wenn man also edgy sein will, kann man schon mal fragen: Sind Poldi, Klinsi und Co. schuld am Rechtsruck in Deutschland?“
Das ist selbstverständlich Tinnef. Wirklich „edgy“ wäre es zu fragen, ob es die Bundeszentrale für politische Bildung noch braucht. Die Antwort wäre ähnlich eindeutig.
Beim Video ist sie klar: Es wurde inzwischen gelöscht.