Die gut gemeinte Geste ging mächtig nach hinten los. Nancy Faeser war eigens nach Doha gereist, um am 23. November 2022 das Auftaktspiel der deutschen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft gegen Japan zu verfolgen. Auf der Tribüne des Khalifa-Stadions zeigte sich die Innenministerin stolz mit der „One Love“-Binde auf dem linken Oberarm, um im autoritären Land öffentlichkeitswirksam für Menschenrechte und Vielfalt zu werben.
Doch anders als die SPD-Politikerin ist Gianni Infantino eben ein ausgebuffter PR-Profi. Mit dem ihm eigenen Instinkt erkannte er die große Chance auf ein prägendes Bild, gesellte sich zu Faeser und ließ sich gemeinsam mit ihr ablichten. Dabei grinste der Boss des mächtigen Fußballweltverbandes Fifa so ausdrucksstark und wies gleichzeitig diabolisch auf das Stückchen Stoff an Faesers Arm, dass er in der ganzen Debatte um die zuvor von seiner Organisation verbotene Kapitänsinsignie schlagartig die Deutungshoheit für sich gewann.
„Macht und denkt doch, was ihr wollt, am Ende habe ich ohnehin Recht“ – all das schien in diesem Bild verewigt zu sein. Infantino und sein in vielen westlichen Ländern als fragwürdig betrachtetes Machtsystem, so der aus dem kleinen Katar in die große weite Welt gesandte Eindruck, stehen irgendwie doch über allem.
Das nächste auf diese in vielerlei Hinsicht diskutable WM anstehende Fußball-Großereignis wird Infantino nur als Gast verfolgen. Wenn am Freitag die Europameisterschaft in München mit dem Eröffnungsspiel zwischen Deutschland und Schottland beginnt, führt nicht die Fifa, sondern der Kontinentalverband Uefa Regie. Und zumindest aus europäischer Perspektive ist das Aufeinandertreffen von 24 Nationen im Gastgeberland gleich in mehrfacher Hinsicht eine Art Charaktertest für Deutschland.
Image auf dem Prüfstand
Zwar ist das damals noch mit politischer Empörung quittierte Verbot zum Tragen der „One Love“-Binde durch die Spielführer im Vorfeld der WM inzwischen komplett aus dem Fokus gerückt. Und auch die etwas aufgesetzt wirkende „Mund-zu-Geste“ der Nationalmannschaft vor der Japan-Partie 2022 ist fast schon wieder in Vergessenheit geraten. Dafür aber stehen andere, weitaus drängendere Aufgaben und Fragen an.
Ist Deutschland als vermeintlicher Moral-Weltmeister imstande, ein Turnier auszutragen, das nachhaltig und tolerant ist, das unbeschwert daherkommt und originäre Freude am Fußball vermittelt? Wird bei der Europameisterschaft all das besser laufen, was Deutschland und andere westliche Länder zuletzt bei Gastgebernationen wie Katar oder Russland in Sachen Menschenrechte, Pressefreiheit und Nachhaltigkeit beklagt haben?
Beim ersten Ausrichten eines großen Turniers hierzulande seit 18 Jahren sind glaubwürdige Antworten auf diese Fragen mindestens genauso bedeutsam wie die Ergebnisse der Elf von Julian Nagelsmann auf dem Platz.
Die Weltmeisterschaft 2006 trug das wunderschöne Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“. Und in der Tat konnte Deutschland seinerzeit sein Image als weltoffener Gastgeber auf unerwartete Rekordwerte steigern. Dass vom ersten bis zum letzten Tag dieser globalen Titelkämpfe gefühlt nur die Sonne schien, machte die Festtage zwischen den Spielorten Hamburg und München perfekt. Tanzende Fans aus aller Herren Länder feierten selbst nach Niederlagen gemeinsam eine große Party, die den steifen Deutschen so wohl niemand zugetraut hatte.
Joachim Löw, seinerzeit Co-Trainer der Nationalmannschaft und später Chef beim WM-Triumph 2014, meinte erst kürzlich, dass das sich scharf ins internationale Gedächtnis eingebrannte Bild eines toleranten und begeisterungsfähigen Turnierveranstalters am Ende viel wichtiger war als der errungene dritte Platz seines Teams bei der Heim-WM.
Nun schaut die Welt (oder zumindest Europa) erneut auf Deutschland – mit nicht minder hohen Erwartungen. Es ist die große Chance, in unsicher erscheinenden Zeiten durch den Fußball wieder für Fröhlichkeit und Lockerheit zu sorgen, für ein gesundes Maß an Entspanntheit und Ablenkung von den Alltagssorgen. Wie keine andere Sportart auf diesem Globus besitzt der Fußball in dieser Hinsicht gigantische Fähigkeiten.
650 Millionen Euro Kosten
Im Vorfeld hat der Ausrichter bereits einige „Hausaufgaben“ erledigt: Für jedes der vom Freitag bis zum Turnierende am 14. Juli anstehende EM-Spiel wurden je 2024 Bäume gepflanzt. Das macht bei 51 Partien zusammen 103.224 Bäume und verleiht dem kontinentalen Kräftemessen zumindest schon vor dem Start einen ökologischen Anstrich.
Zudem ist die Deutsche Bahn nicht nur Logistikpartner der Uefa für die Europameisterschaft, sondern wird auch Turnierdirektor Philipp Lahm an viele Spielorte bringen. Anders als Franz Beckenbauer, der als Organisationschef 2006 noch per Helikopter von Partie zu Partie schwebte, setzt Lahm auf umweltfreundliche Transportmöglichkeiten.
Ob all die wohlwollend inszenierten Aktionen nur ein Feigenblatt sind, wird sich aber erst zeigen, wenn die 2,7 Millionen erwarteten Gäste zu den Begegnungen eintreffen und noch einmal einige Millionen Menschen auf den Fanmeilen der zehn Spielorte die Partien verfolgen. Nach Recherchen des ZDF und des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ kostet das Turnier 650 Millionen Euro – zu tragen vom Bund, den Ländern und den Austragungsstädten. Eine immense Summe für eine vierwöchige Party – und ähnlich wie bei der WM vor 18 Jahren auch ein großer finanzieller Vertrauensvorschuss. Nur in Sachen Wetter herrschen noch nicht die Bedingungen von 2006 vor: Für München, Ort des Eröffnungsspiels, sind am Freitag 18 Grad vorausgesagt.
Die Vorfreude auf fröhliche und friedliche Fußballfestspiele ist trotzdem bei den meisten Fans groß. Und genauso groß ist die Erwartungshaltung an den Gastgeber – damit am Ende nicht der Slogan „Die Welt zu Gast bei Gutmenschen“ steht, sondern ein neues Sommermärchen 2024 geschrieben werden kann.