Feminismus

Sexualisierung als dicke Frau: Wie ich mit Mitte 30 endlich lernte, mich vom Male Gaze zu befreien

Auf der Suche nach männlicher Anerkennung hat sich unsere Autorin jahrelang in enge Kleidung gezwängt. Hier erzählt sie, wie sie lernte, dass das die falschen Gründe dafür sind – und wie sie sich mit ihrer inneren Kunstlehrerin versöhnte.
Sexualisierung von Frauenkörpern
Ramona Reuter / Blaublut-Edition.com

Über die Sexualisierung als dicke Frau: Autorin Lisa Ludwig erzählt, wie sie lernte, sich nicht mehr länger dem männlichen Blick zu unterwerfen

Ich habe kürzlich meinen Schrank ausgemistet und eine Entdeckung gemacht, die mich ähnlich kalt erwischt hat wie die klimawandelbedingten Wetterumschwünge: Ich bin 35 Jahre alt, kleide mich wie eine Kunstlehrerin – und liebe es. Das ist keine Beleidigung eines kompletten Berufszweiges, nein, wirklich nicht! Lassen Sie mich erklären.

Warum ich weite, nicht sexualisierende Kleidung bei Frauen mit Aufgeben gleichsetzte

Noch als Schülerin hatte sich bei mir der Eindruck verfestigt, dass sich esoterisch angehauchte Therapeutinnen und künstlerisch interessierte Pädagoginnen in weite Gewänder kleiden, die ihre Figur nicht einmal mehr erahnen lassen. Gekrönt wird der Look durch große, dramatische Ketten, gerne aus (buntem) Holz oder Bernstein, und einem einzelnen, sehr auffälligen Ohrring, der in irgendeiner lokalen Kunsthandwerkstätte zusammengeklöppelt wurde. Für mich war diese Art von Outfit damals der Inbegriff von Aufgeben. Frauen fortgeschrittenen Alters, die nicht mal mehr versuchen, attraktiv zu wirken. Mein auf klassische Geschlechterrollen und den Male Gaze trainiertes Gehirn konnte das nicht verstehen. Vor allem aber, das versprach ich mir hoch und heilig, würde ich niemals so rumlaufen.

Ich bin dick. Nicht so ein bisschen, wo man seine eine Bauchfalte in die Hände nehmen kann, aber noch in Zara-Größen passt. So richtig. Schon früh in meiner Pubertät lernte ich, dass mich das in den Augen meiner Altersgenossinnen und -genossen nicht begehrenswert machte. Ich war nicht hübsch oder verliebenswert, ich war eklig. Nur ein Aspekt meines Körpers wurde mit wohlwollenden Blicken gestreift: meine Brüste. Das Learning für mich war klar: Wenn ich nicht verabscheut werden möchte, muss ich mich auf das reduzieren, was mich begehrenswert macht. Ich muss mich sexualisieren. Das absolute Gegenteil zu dem, was ich für mich als Kunstlehrerinnen-Look definiert hatte.

Sich betont freizügig und sexy zu kleiden, ist natürlich nicht per se problematisch oder ein Zeichen davon, sich männlichen Fantasien zu unterwerfen. Viele dicke Frauen sehen es als Befreiung von einengenden Schönheitsstandards, so viel Haut zu zeigen wie jeder andere Mensch auch. Die Plus-Size-Influencerin Gina Tonic hat es sich beispielsweise zur Aufgabe gemacht, mit der männlichen Erwartungshaltung an weiblich gelesene Körper “zu spielen, sie zu überwinden und schließlich durch meine Ästhetik zu zerstören”, wie sie auf Bustle erklärt. Ich wünschte, das wäre damals bei meiner freizügigen Kleiderwahl meine Motivation gewesen, anstatt damit um männliche Aufmerksamkeit zu betteln.

Fett wird an Frauenkörpern gesellschaftlich nur dann akzeptiert, wenn es sich an den “richtigen” Stellen befindet

Der Umgang mit dicken Körpern ist, in Ermangelung eines besseren Wortes, sehr widersprüchlich und hängt elementar damit zusammen, an welchen Stellen Fett als gesellschaftlich akzeptiert gilt. Große Brüste? Sexy. Großer Arsch? Mal so, mal so, in den letzten Jahren aber absolut erstrebenswert. Volle Wangen? Ja, aber lieber durch Filler und Fetttransplantationen an genau die richtigen Stellen gespritzt, als ein natürlich rundes Gesicht. All das ergibt ein erotisches, ja, sogar übererotisiertes Bild von Weiblichkeit. Aber ein dicker Bauch? Weiche Oberarme und Schenkel? Grotesk. Abstoßend. Das Gegenteil von geil – und dadurch dann auch wieder fetischisiert. Körper wie meiner sind eine eigene Pornokategorie. Die Art von Aussehen, die viele nur im Inkognito-Browser-Modus attraktiv finden.

In den 2000er- und 2010er-Jahren sehe ich keine andere Chance, als mitzuspielen – trotz Body-Positivity-Hashtags auf Instagram. In meinen 20ern trage ich quasi ausschließlich Kleider und Oberteile mit Ausschnitt. Pluspunkte, wenn vermeintlich beiläufig der Ansatz meines einzigen schönen BHs durchblitzt, den ich auch dann noch trage, als sich die Metallbügel bereits Richtung Herz vorarbeiten. Um zu betonen, dass ich trotz Bauch eine Taille habe, müssen die Outfits eng sein. Darüber trage ich offene Cardigans oder Jeansjacken, um meine Oberarme und Speckröllchen am Rücken zu kaschieren. Eine Freundin sagt mir einmal: “Weißt du, was ich an dir so toll finde? Du ziehst dich an, als würdest du 30 Kilo weniger wiegen.” Ich halte das für ein Kompliment. Auch, weil sie denkt, dass mich wirklich nur 30 Kilo davon trennen, einen gesellschaftlich akzeptierten Körper zu haben.

Mein Körper fühlt sich an wie ein Stück Mett, das ich in eine Keksform quetsche. Mit aus heutiger Sicht zweifelhaftem Erfolg. Männer sagen, dass ich heiß bin und heiß ist besser als eklig. Es ist mir egal, dass sie mir dabei nicht ins Gesicht schauen. Meistens zumindest. Doch als ich in der Serie “Euphoria” sehe, wie die mehrgewichtige Kat Hernandez (gespielt von Barbie Ferreira) erst dann als korrekt zu behandelnder Mensch wahrgenommen wird, als sie sich in BDSM-Outfits wirft und sexuelle Offenheit performt, verkrampft sich etwas ganz tief in mir. Irgendwo zwischen Uterus und Herz. Sie tut mir leid. Aber wenn sie mir leid tut, warum mache ich das Gleiche?

Zu meinem 30. Geburtstag erlebe ich dann eine Art Sinnkrise. Ich bin immer noch Single, habe einiges mehr auf den Rippen als zu Beginn meiner “Brüste first, personality second”-Phase und merke, dass es mir nicht guttut, wie ich auf mich selbst blicke. Ich verbiege meinen Körper nicht nur für andere, ich priorisiere auch mich selbst falsch. Was hat mir all das gebracht, außer One Night Stands mit klassisch attraktiven Männern?

Der Umbruch: Wie ich lernte, mich den Blicken anderer weniger zu unterwerfen

Als Corona kommt und sozialer Kontakt für alleinstehende und -lebende Menschen wie mich auf Null oder zumindest nur die allerengsten Freund:innen und Familienmitglieder begrenzt wird, passiert etwas Interessantes: Ich vergesse, Hotness zu performen. Im Homeoffice trage ich erst nur sporadisch, schließlich gar keinen BH mehr. Damit das bei beruflichen Video-Calls nicht allzu offensichtlich wird, werden aus figurbetonten Hemden und Tops weite Pullis und hochgeschlossene T-Shirts. Statt 24/7 die Luft anzuhalten, lasse ich los – und kann plötzlich auch in Gegenwart anderer Menschen frei atmen.

Wirklich die Augen öffnet mir ein beruflicher Workshop, bei dem ich und Kolleginnen zu Bühnenpräsenz und öffentlichem Sprechen geschult werden. “Hör auf damit”, brüllt mir der Coach zu, als ich probeweise einen Vortrag vor der Gruppe halten soll und das tue, was ich gelernt habe: lächeln, Bauch einziehen, Oberkörper so verdrehen, dass meine Kurven möglichst vorteilhaft zur Geltung kommen. “Ich möchte nicht mit dir schlafen, ich möchte dir zuhören!” Ich fühle mich, als würde ein Kartenhaus aus Fleisch um mich zusammenfallen. Wer bin ich in den Augen anderer, wenn ich gar nicht versuche, “hot” zu wirken? Eklig, wie früher in der Schule? Und wenn dem so ist, will ich mich dann wirklich immer noch den Blicken anderer unterwerfen?

Als sich die Pandemiebestimmungen schließlich lockern, bestelle ich mir gleich mehrere Sport-BHs. Ich war lange nicht mehr im Fitnessstudio und fühle mich trotzdem wohler in meinem Körper, als seit langem. Ein Ausschnitt ist optional, nicht mehr Grundvoraussetzung jedes Outfits. Ich trage Pullis und T-Shirts, die meine Taille nicht mal erahnen lassen, weite Kleider, die meine Schenkel umspielen und mir ein Gefühl von Freiheit geben. Ich bin die Kunstlehrerin aus meinen Teenager-Albträumen, nur vor Holzketten mache ich noch Halt. Aber es ist nicht eingetreten, was ich früher über die Ursachen dieses Kleidungsstils dachte. Ich habe nicht aufgegeben. Ich habe mich befreit.

Wenn ich das Haus verlasse, tue ich es jetzt mit dem Wunsch, ich sein zu wollen. Nicht, was andere an oder in mir sehen wollen. Weite Blazer machen meine Schultern breiter, in ihnen fühle ich mich stärker. In hochgeschlossenen Oberteilen denke ich beim Pfandflaschen-Abgeben nicht ständig darüber nach, ob mir bei einer unvorhergesehenen Bewegung Körperteile aus dem Ausschnitt fallen. Meine Outfits schränken mich nicht mehr ein, sie ermächtigen mich. Dass mich wildfremde Menschen auf meine Brüste ansprechen, fehlt mir nicht. Es erleichtert mich, dass sie es nicht mehr tun.

“Wenn du nur in zwei Kategorien fallen kannst, zu fett oder super sexy, hast du nicht viel Raum, um aus dieser Identität auszubrechen”, schrieb Autorin Marlen Komar 2015 für das Online-Magazin Bustle. Ich finde, fast 10 Jahre später sollten wir uns als dicke Personen, bzw. dicke Frauen nicht auf diese zwei Kategorien festlegen lassen. Oder überhaupt Kategorien. Nicht die sexy Dicke, nicht mein ausgedachtes Bild der “Kunstlehrerin”, die sich von jedweder Promiskuität abgewendet hat. Ich kann das alles und nichts sein und ich kann nicht beeinflussen, wie andere mich sehen wollen, nur, wie ich mich selbst sehe. Sich sexy fühlen ist gut, aber nicht zu den Bedingungen anderer.

Denn die Wahrheit ist: Die Blicke und das Begehren anderer können nicht nur Selbstbestätigung und Ego-Boost sein, sondern auch ein Gefängnis. Sie zwängen einen in eine gesellschaftlich abgesegnete Version der eigenen Weiblichkeit und – im wahrsten Sinne des Wortes – Klamotten. Sich davon zu befreien, kann für jede Person anders aussehen. Für viele sind tiefer Ausschnitt und enge Schnitte die ultimative Rebellion. Andere fühlen sich in androgynen Looks stark oder lieben mädchenhafte Blumenkleider. Für mich ist mit Mitte 30 wichtig, mich aus einer Sexualisierungsspirale zu ziehen und meine innere Kunstlehrerin zu umarmen. Zumindest vorerst. Wer weiß, vielleicht wache ich demnächst auf und fühle mich danach, in einem Latex-Bodysuit auf eine Party zu gehen. Vollkommen okay, Hauptsache: meine Wahl.

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