Eine Hand zählt deutsche Stimmzettel der Europawahl 2024.
picture alliance/dpa | Bernd Weißbrod

Europawahlen
Wissenschaft besorgt über Zugewinn europakritischer Parteien

Die europakritische AfD ist nach der Union in Deutschland stärkste Partei bei den Europawahlen. Die Wissenschaft setzt auf Aufarbeitung.

11.06.2024

In 21 Ländern der EU haben am Sonntag die Europawahlen stattgefunden, darunter auch in Deutschland. CDU und CSU erreichten laut Hochrechnungen des Wahlforschungsinstituts "Infratest dimap" mit 30 Prozent zusammen die meisten Stimmen. Dahinter folgt die AfD mit 15,9 Prozent. Die Partei ist in allen ostdeutschen Ländern die stärkste Partei und erzielte neben dem neugegründeten "Bündnis Sarah Wagenknecht" (BSW), das 6,2 Prozent der Stimmen bekam, den stärksten Zugewinn. 

Europaweit ist die "Europäische Volkspartei" (EVP) mit voraussichtlich 184 künftigen Sitzen die stärkste Fraktion, gefolgt von den Sozialdemokraten mit 139 Sitzen. Die Grünen und die Linken verzeichneten die meisten Verluste. Europakritische Parteien könnten künftig ein Drittel der Sitze ausmachen, was eine Forderung nach nationalen Lösungen erwarten lässt. 

Für den Politikwissenschaftler Frank Decker kommt der Rechtsruck in Deutschland nicht überraschend. Linke Abstimmungsmehrheiten werde es im neuen Europäischen Parlament nicht mehr geben, allerdings auch kein Rechtsbündnis, wie es manche befürchtet hätten. "Konsequenzen sehe ich vor allem für den Klimaschutz, der in der Bedeutung zurückgestuft werden dürfte", sagt der Professor der Universität Bonn gegenüber "Forschung & Lehre". Umgekehrt werde man bei der Migration einen restriktiveren Kurs einschlagen. Wie stark der Wechsel ausfällt, hänge auch von dem Ausgang der nationalen Wahlen ab, insbesondere der vorgezogenen Neuwahl in Frankreich. "Für Deutschland erwarte ich eine weitere Verschärfung des ohnehin angespannten Klimas in der Koalition. Im Haushaltsstreit sind die Fronten so festgefahren, dass ein vorzeitiges Scheitern der Regierung nicht auszuschließen ist."

Europawahl 2024: So haben die Deutschen gewählt

CDU/CSU: 30 Prozent

AfD: 15,9 Prozent

SPD: 13,9 Prozent

Grüne: 11,9 Prozent

BSW: 6,2 Prozent

FDP: 5,2 Prozent

Linke: 2,7 Prozent

Andere: 13,9 Prozent

Quelle: Wahlforschungsinstituts "Infratest dimap", tagesschau.de, Stand: 10.06.24, 06.10 Uhr, 

AfD schneidet auch bei jungen Wählenden gut ab

In Deutschland konnten Jugendliche zum ersten Mal ab 16 Jahren wählen. Von den bis 24-Jährigen wählten mit 28 Prozent die meisten neue Parteien außerhalb des traditionellen Spektrums – unter ihnen die Partei "Volt" mit etwa neun Prozent. Die AfD erzielte mit 16 Prozent etwas weniger Stimmen als die Union (17 Prozent). 

Dass die Jüngeren stärker zu den kleinen Parteien und auch der AfD tendieren, habe man schon früher beobachten können, sagt Politikwissenschaftler Decker. "Bei der Europawahl wurde dieser Effekt durch die fehlende Sperrklausel verstärkt." Das gute Ergebnis von "Volt" in der Gruppe der 16- bis 24-Jährigen ist laut ihm vor allem auf enttäuschte Grünen-Wählerinnen und -Wähler zurückzuführen. Um die Motive im Einzelnen zu verstehen, bedürfe es noch genauerer Analysen. Die starke Präsenz der AfD auf Tiktok ermögliche es ihr heute besser als früher, die jüngeren Wählerinnen und Wähler zu erreichen, sagt Decker. Das erkläre den Erfolg aber nicht allein. Berücksichtigt werden müssen weiter die veränderte Themenagenda, die Zukunftssorgen der jüngeren Generation und die seiner Meinung nach noch zu wenig aufgearbeiteten Nachwirkungen der Coronapandemie. Decker setzt auf eine bessere politische Bildung und Aufklärung, wie er bereits im März im Interview mit "Forschung & Lehre" betonte.

Europäischer Zusammenhalt entscheidend für Wissenschaft

Wissenschaftsorganisationen hatten vorab zu einer regen Beteiligung an der Wahl aufgerufen. Sie hatten die Bedeutung der europäischen Gemeinschaft für die Wissenschaft betont, darunter auch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD). 

"Das europaweit starke Abschneiden von Parteien, die dem Prozess der europäischen Einigung – der auch die Wissenschaft in Europa stärkt – kritisch bis ablehnend gegenüberstehen und wissenschaftspolitisch problematische Vorstellungen haben, muss uns mit Sorge erfüllen", sagte der HRK-Präsident Walter Rosenthal im Anschluss an die Wahl. Für eine genaue wissenschaftspolitische Bewertung der Wahl sei es jedoch zu früh.

Sobald die Wahlen final ausgezählt sind, geht es an die Fraktionsbildung im Europäischen Parlament. Erst dann steht fest, wie die Sitzverteilung genau sein wird. 

Die voraussichtliche Sitzverteilung im EU-Parlament 

Europaweit ist die Europäische Volkspartei (EVP) mit voraussichtlich 184 künftigen Sitzen die stärkste Fraktion, gefolgt von den Sozialisten mit 139 Sitzen. Die Liberalen bekommen 80 Sitze und die europakritische EKR 73 Sitze, gefolgt von der ID mit 58 Sitzen, den Grünen mit 52 und den Linken mit 36 Sitzen. Es wird insgesamt demnach 720 Sitze geben (2019: 705). 

Insgesamt waren in diesem Jahr in der EU 360 Millionen Menschen wahlberechtigt. Knapp 65 Millionen Menschen durften in Deutschland wählen. Die Wahlbeteiligung lag hierzulande bei rund 65 Prozent, knapp vier Prozent mehr als bei den Wahlen 2019 und so hoch wie noch nie.  

Am Donnerstag hatten bereits die Niederlande gewählt, am Freitag folgten Irland und Tschechien, am Samstag Italien, die Slowakei, Lettland, Malta und die französischen Überseegebiete. Gewählt werden die 720 Abgeordneten des Europäischen Parlaments für eine Amtszeit von fünf Jahren. 

Die Zahl der Abgeordneten pro Land ergibt sich aus der Bevölkerungsgröße. Sie reicht von sechs Abgeordneten in Malta, Luxemburg und Zypern bis zu 96 Abgeordneten aus Deutschland.

Erste Einordnungen des Wahlergebnisses für die Forschung 

Laut Analyse von Science Business dürften durch den groben Erhalt der Mehrheiten im Europäischen Parlament für Forschung und Wissenschaft keine eklatanten Kursänderungen zu erwarten sein, so dass die EU-Forschungspolitik und die EU-Förderprogramme nicht gefährdet seien. "Die Ergebnisse an sich sind kein Erdbeben in Bezug auf die F&I-Politik. Wir hatten in der Vergangenheit einen sehr breiten Konsens und das wird sich wahrscheinlich nicht ändern", sagte Thomas Jørgensen, Direktor für Politikkoordination und Prognosen beim Europäischen Universitätsverband ("European University Association", EUA). 

Einzelne Stimmen zeigten sich Science Business zufolge allerdings besorgt über den Einfluss, den die erstarkten rechten Parteien auf die Forschungspolitik haben könnten. Unter anderem habe die AfD den Fokus von "Horizon Europe" auf Bereiche wie Klima, Kreativität und integrative Gesellschaft in ihrem Wahlprogramm als "ideologisch motiviert" abgelehnt, ein Nachfolgerahmenprogramm ausgeschlossen und die Abschaffung des Europäischen Forschungsrats gefordert. 

Das schlechte Abschneiden der Grünen wurde "Table.Briefings" gegenüber mit der Politik um den "Green Deal" begründet. Diese Initiative hat zum Ziel, bis 2050 gemäß des Pariser Abkommens Klimaneutralität zu erreichen. Der CDU-Politiker Christian Ehler, Mitglied im Forschungsausschuss des Europäischen Parlaments, sagte gegenüber dem Mediendienst, dass es der Politik der Grünen rund um den Green Deal "an Realismus" bezüglich der Umsetzung fehle. Grünen-Kandidat Michael Bloss will sich laut Berichterstattung weiterhin für die Klimaschutzagenda des Green Deals starkmachen – Ursula von der Leyen als amtierende und wahrscheinlich nächste EU-Kommissionspräsidentin ebenso.

Was die Parteien zur Europawahl versprechen 

Einblicke in die Wahlprogramme der aus Deutschland ins Europaparlament gewählten Parteien mit einem Fokus auf Wissenschaft, Forschung und Lehre haben wir für Sie zusammengestellt.

Dieser Artikel wurde am 11.6. um 13:15 Uhr aktualisiert und erstmals am 10.6. veröffentlicht. 

kas